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Transpersonale Psychologie Und Psychotherapie - 1999 Vol.1

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Ingrid Riedel: Weibliche Spiritualität bei Hildegard von Bingen 4Veronica Gradl: Von Herz und Verstand -Wer wälzt uns den Stein von des Grabes Tür? 15Sylvia Wetzel: Grüne Tara, Freie Frau - Auf den Spuren einer buddhistischen Göttin 32Brigitte Dorst: Der Weg des Herzens - Frauen und das Weibliche im Sufismus 45Sybille Oelschläger: Die Bedeutung der Menstruation für den weiblichen Individuationsprozeß 58Hans-Willi Weis: Die Schöpfung nachgedichtet - 900 Jahre Hildegard von Bingen 66Wilfried Belschner, Joachim Galuska: Empirie spiritueller Krisen - erste Ergebnisse aus dem Projekt RESCUE 78

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  • Transpersonale Psychologie und Psychotherapieist eine unabhngige Zeitschrift. Aus einem schulen-, kultur- und religionsbergrei- fenden Verstndnis heraus bietet sie ein Forum zur Verbindung von Psychologie und Psychotherapie und deren theoretischen Grundlagen mit spirituellen und transpersonalen Phnomenen, Erfahrungen und Wegen, Welt- und Menschenbildern. Sie dient dem Dialog der verschiedenen Richtungen, frdert integrative Bemhungen und leistet Beitrge zu Forschung und Theoriebildung.

    by Via Nova,Neier Strae 9,36100 Petersberg,Telefon /Fax: (06 61) 6 29 73

    ISSN 0949-3174

    Scan & OCR von Shiva2012

    Impressum:Herausgeber und Schriftleitung:Dr. med. Joachim Galuska, Fachklinik Heiligenfeld, Euerdorfer Str. 4-6, D-97688 Bad Kissingen, Telefon (09 71) 8 20 63 69, Fax (09 71)685 29.

    Prof. Dr. Edith Zundel, Ankerbachtalweg 4,D-53227 Bonn, Telefon (0228) 4423 62, Fax (0228) 44 3393.

    Redaktionelle Mitarbeit:Ulla Pfluger-Heist, Tilsiter Str. 10, D-88267 Vogt, Tel. u. Fax (07529) 32 55

    Wissenschaftlicher Beirat:David Boadella (spirituelle Krperpsychotherapie) Michael von Brck (vergleichende Religionswissenschaften)Stan Grof (Holotrope Therapie, Spirituelle Krisen) Willigis Jger (Kontemplation und Meditation)Ingo Jahrsetz (Spirituelle Krisen)Ayya Khema (1923-1997)Walter von Lucadou (Parapsychologie)Pieter Loomans (Initiatische Therapie)Arnold Mindell (Prozeorientierte Psychotherapie) Michael Plesse (Orgodynamik)Ursuia Reineke (Psychosynthese)Christian Scharfetter (Bewutseinsforschung, Psychopathologie)Theodor Seifert (Jungianische Psychologie)Ken Wilber (Transpersonale Psychologie).

    Erscheinungsweise und Bezug:Die Zeitschrift erscheint zweimal jhrlich.Bezugspreis DM 39,- zuzgl. Versandkosten.Das Abonnement gilt fr das Kalenderjahr, die Bc- zugsdauer verlngert sich jeweils um 1 Jahr, wenn bis zum 30. Dezember keine Abbestellung vorliegt. Bestellungen bitte an den Verlag Via Nova.

    Mit der Annahme eines Beitrags zur Verffentlichung bertrgt der Autor dem Verlag alle Rechte, insbesondere das Recht der weiteren Vervielfltigung und das Recht zur bersetzung fr alle Sprachen und Lnder. Die Zeitschrift sowie alle in ihr enthaltenen einzelnen Beitrge und Abbildungen sind urheberrechtlich geschtzt. Fr den persnlichen Gebrauch drfen von Beitrgen oder Teilen daraus Einzelkopien hergestellt werden. Die Aufnahme der Zeitschrift in Lesezirkel ist nicht gestattet.

    Hinweis:Diese Zeitschrift ist auf chlor- und surefreiem Papier gedruckt.

  • Transpersonale Psychologie und Psychotherapie5. Jahrgang, Heft 1, 1999

    Editorial 3

    Ingrid Riedel: Weibliche Spiritualitt bei Hildegard von Bingen 4

    Veronica Gradl: Von Herz und Verstand -Wer wlzt uns den Stein von des Grabes Tr? 15

    Sylvia Wetzel: Grne Tara, Freie Frau -Auf den Spuren einer buddhistischen Gttin 32

    Brigitte Dorst: Der Weg des Herzens -Frauen und das Weibliche im Sufismus 45

    Sybille Oelschlger: Die Bedeutung der Menstruationfr den weiblichen Individuationsproze 58

    Hans-Willi Weis: Die Schpfung nachgedichtet - 900 Jahre Hildegard von Bingen 66

    Wilfried Belschner, Joachim Galuska:

    Empirie spiritueller Krisen -erste Ergebnisse aus dein Projekt RESCUE 78

    Lies Pilgram: Scherenschnittmandalas und Gedichte 2, 77,100

    Buchbesprechungen 95

    Tagungen 99

    Die Autorenlnnen dieser Ausgabe 101

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  • DUriefst mich beim Namen, als ich wehrlos in den Fesseln erstarrt war, allem Sinn entglitten.

    DUrhrtest an meine Schulter, als die Verlassenheit mich lhmte, trnenlos und stumm.

    DUrichtetest mich auf,als ich kriechend verkrmmte,unbefragtim Zufall verloren.

    DUriefst mich beim Namen, meintest mich glaubtest mir.Dudas Leben.

    Dein Vertrauen erschlo michwie einen Garten,gelockert ist der Herzensgrund,die Steine verlesen,die Erde bereitfr die Lichtsamen,die Hoffnungsknospen.

    Winde ziehenund Wolken,die Zeit schwingtwie ein Klppelin einer Glocke aus Grn,tanzt und tnt bis die Frucht gereifteinen Sternin den Himmel st.

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  • Editorial

    Dieses Heft hat den Themenschwerpunkt weibliche Spiritualitt, ein Begriff, der zum Nachdenken und zur Diskussion anregt und das auch soll.

    Was ist berhaupt vorstellbar unter weiblicher Spiritualitt? Ist denn nicht eigentlich die Spiritualitt jenseits der weiblichen und mnnlichen Identifikation zu verstehen f Beginnt sie nicht gerade dort, wo die Geschlechtlichkeit und die damit verbundenen Lebensthemen berschritten werden in die Dimension des GEISTES? Vielleicht ist eine weibliche einfach die von Frauen gelebte Spiritualitt? Aber dann mte gesagt werden knnen, inwiefern sich diese unterscheidet von der von Mnnern gelebten; es mte sich in der von Frauen gelebten Spiritualitt etwas immer Wiederkehrendes finden lassen, das anders ist als bei den Mnnern. Es mte Unterschiede geben im spirituellen Zugang, im Erleben, im Ausdruck von Frauen und von Mnnern, die erkennbar und benennbar sind. Oder geht es dabei mehr um Prinzipien, die in Frauen und in Mnnern existieren, unabhngig vom Geschlecht, wie es etwa im chinesischen Yin-Yang-Symbol ausgedrckt ist? Oder beides?

    Wir hielten es fr dringlich, einen Raum fr eine solche Diskussion zu schaffen und haben verschiedene Frauen angefragt, Beitrge fr dieses Heft zu schreiben und Gedanken darber zu formulieren, was sie unter weiblicher Spiritualitt verstehen. Auf diese Weise ist ein Reigen von Antworten zusammengekommen, die sich der Frage auf unterschiedlichste Weise zuwenden.

    Die Artikel von Ingrid Riedel und Veronica Gradl sind eigens fr diese Ausgabe verfat worden, whrend es jene von Sylvia Wetzel und Brigitte Dorst bereits als Vortrge gab und sie fr die Verffentlichung hier nur berarbeitet werden muten. Sybille Oelschlgers Beitrag lag uns bereits frher vor und hat seit einem Jahr auf dieses Schwerpunkt-Thema gewartet. Der Artikel von Hans-Willi Weis gesellte sich unversehens hinzu, einen kontrren Akzent setzend, so da es nun zwei recht kontrapunktische Beitrge ber Hildegard von Bingen gibt, was wir im Sinne einer Kontroverse als durchaus bereichernd empfinden. Vielleicht lt sich die eine oder der andere von Ihnen dadurch anregen, Stellung dazu zu nehmen.

    Ganz auerhalb des Themenschwerpunktes steht die Studie von Wilfried Belsch- ner und Joachim Galuska ber spirituelle Krisen, mit der dieses Heft abschliet.

    Wir wnschen Ihnen viel Freude und Anregung mit den Artikeln und den Scherenschnitt-Mandalas, die Lies Pilgram als sehr gleichnishaft beschreibt: Sie schneidet ein Achtel des Kreises, und dann, sagt sie, sei es jedesmal unglaublich spannend, was dabei herauskommt, wenn es entfaltet wird.

    Ulla Pflger-Heist

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  • Transpersonale Psychologie und Psychotherapie1/99,4-14

    Weibliche Spiritualitt bei Hildegard von Bingen

    Ingrid Riedel, Konstanz

    Zusammenfassung: Die Eigenart von Hildegards mystischer Schau liegt in der Ganzheitlichkeit ihres Welt- und Menschenbildes, mit der sie sich vom Dualismus asketischer Anschauungen unterscheidet, wie er zu ihrer Zeit vor allem vom Katharertum vertreten wurde, das Seele und Leib, Gott und Welt als unvereinbar auseinanderri. Hildegards Mystik ist aktuell als die Spiritualitt einer Frau, die aus der Imagination und Inspiration ihrer Psyche schpft und dabei Bilder des Weiblichen in Gott wie das Bild der Sophia neu erschaut. Auf dem Hintergrund von Hildegards spiritueller Entwicklung, vor allem der Entfaltung ihrer audiovisuellen Begabung, wird auch ihr besonderes Selbstverstndnis einsichtig.

    Schlsselworte: Visionre Schau, weibliche Spiritualitt, erfahrungsbezogene Spiritualitt, Verbundenheitsprinzip, Sophia - weibliches Gottesbild.

    I. Die Entwicklung von Hildegards Spiritualitt

    Schon bei dem kleinen Mdchen, dem zehnten Kind der Mechthild und des Hildebert von Bermersheim, zeigte sich eine eidetische und audiovisuelle Begabung, die das Mdchen, das auf dem elterlichen Rittergut zwischen Wiesen, Weinbergen, Wldern und Flssen, verbunden mit den Tieren, aufwuchs, nachdenklich machte und ihm auch manchmal schmerzhaft seine Besonderheit zeigte. So berichtet sie glaubwrdig:

    In meinem dritten Lebensjahr sah ich ein so groes Licht, da meine Seele erbebte, doch wegen meiner Kindheit konnte ich mich nicht darber uern ... Und bis zu meinem 15. Lebensjahr sah ich vieles, und manches erzhlte ich einfach, so da die, die es hrten, sich sehr verwunderten, woher es kme und von wem es sei. Da wunderte ich mich auch selbst ... Darauf verbarg ich die Schau, die ich in meiner Seele sah, so gut ich konnte ... Da ward ich von groer Furcht ergriffen und wagte nicht, dies irgend jemandem zu offenbaren ... Wenn ich von dieser Schau ganz durchdrungen war, sprach ich vieles, was denen, die es hrten, fremd war. Lie aber die Gewalt der Schau ein wenig nach, in der ich mich eher wie ein kleines Kind als nach den Jahren meines Alters verhielt, so schmte ich mich sehr, weinte oft und htte hufig lieber geschwiegen, wenn es mir mglich gewesen wre. Denn aus Furcht vor den Menschen wage ich niemandem zu sagen, was ich schaute. (Vita, S. 71 f.)

    Scham und Scheu erfllen die Menschen, die Neues, ihnen selbst Offenbartes erfahren, was bis dahin noch nicht in ihre geistige Umwelt pat. Hier aber wird die kindliche und dann auch die jugendliche Hildegard erschttert und befremdet von

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  • Weibliche Spiritualitt bei Hildegard von Bingen

    Erlebnissen, die sie selbst nicht einordnen und mit ihren nchsten Menschen auch nicht teilen kann. Sie erzhlt weiter, da sie mit ihrer Amme darber zu sprechen versucht und diese auch befragt habe, ob sie denn nicht auch das entsprechende visionre Bild sehe, das ihr selber unabweisbar vor Augen stand. Die Amme aber konnte nichts dergleichen wahrnehmen. Geradezu verstrt darber, da sich diese Erfahrungen zwischenmenschlich nicht vermitteln lieen, erkannte Hildegard erst jetzt, da ihre visionren Wahrnehmungen subjektives Erleben darstellten. Dabei standen sie ihr doch gleichsam objektiv gegenber, mehr noch, sie begegneten ihr als etwas Transpersonales.

    Es ist mehr als begreiflich, da Hildegard lange nicht wagte, etwas von ihren inneren Schauungen niederzuschreiben, wagte sie doch zunchst mit keinem Menschen darber zu sprechen. Was sie erfuhr, ging weit ber die puberttsbedingte und allemal schamerweckende Erkenntnis hinaus, anders zu sein als andere. ber der Erfahrung spontaner Audiovisionen und den eigenstndigen religisen Bildern, die sie enthielten, lag damals ebenso leicht die Vorstellung von Besessenheit, die Verdchtigung, den Einhauchungen irrefhrender Luftgeister ausgesetzt zu sein, wie heute der Verdacht aufkme, es handle sich bei diesem Stimmenhren und Bildersehen womglich um psychotische Episoden.

    Wie heute eine Stigmatisierung durch psychiatrische Diagnose und Behandlung drohte, so damals die Stigmatisierung durch den Verdacht auf Ketzerei.

    Die junge Hildegard begann, vieles bei sich zu behalten und im Herzen zu bewegen. Sic selbst verstand ihre Erfahrungen spirituell. Es kam ihrer Nachdenklichkeit und ihrer Introversion wahrscheinlich entgegen, da ihre Eltern beschlossen, dieses zehnte Kind - zumal das Zuvorgeborene gestorben war - als ihren Zehnten Gott zu weihen und es schon vom achten Lebensjahr an einer geistlichen Erziehung zuzufhren, zunchst bei einer verwitweten, spirituell aufgeschlossenen Verwandten auf Burg Sponheim, wo sie mit einem gleichaltrigen Mdchen und der um sechs Jahre lteren Jutta von Sponheim in die Grundlagen religiser Bildung eingefhrt werden sollte. Hier lernte sie lesen und schreiben, lernte auch die entsprechenden Lektren kennen, die zu einem spirituellen Leben hinfhrten. Die Mdchen waren, ihrem Alter entsprechend, religis zu begeistern und mgen oft sehnschtig von dem hohen Bergfried auf Burg Sponheim aus, der heute noch steht, in die Ferne geblickt haben, wo irgendwo im Osten, wo die Sonne aufging, Jerusalem lag, die Heilige Stadt, wohin zu der Zeit die europische Ritterschaft aufbrach, dem Kreuzzugsgedanken folgend. Als die inzwischen eng zusammemgewachsenen Mdchen schlielich den Wunsch uerten, auf Pilgerschaft nach Jerusalem zu gehen, wurde den Eltern bange, so da sie es noch als die eher realisierbare Idee ansahen, die spirituell ergriffenen Mdchen in eine Klause, die dem Benediktiner- Kloster auf dem Disibodenberg angeschlossen war, einziehen zu lassen. Jutta war damals immerhin zwanzig, die beiden Jngeren vierzehn Jahre alt. Erst neueste Forschung an der Vita Juttas (Staab, 1998, S. 58-86) im vergangenen Hildegard-Jahr 1998 gelangte zu der Darstellung der Vorgnge um Hildegards Kindheit und Jugend, die ich soeben vertreten habe, und widerspricht damit lteren Darstellungen, die auf der legendr berwucherten Vita Hildegards beruhten, nach der bereits das achtjhrige Mdchen nach dem Willen der Eltern zu der viel lter als sie war erscheinenden Meisterin Jutta auf den Disibodenberg gebracht und dort eingemauert worden sei.

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  • Ingrid Riedel

    Die ltere Darstellung diente der Dramaturgie eines Heiligenlebens, dramatisierte den Vorgang und damit die Leidensgeschichte und Heiligenlegende der kleinen Hildegard.

    Auch die historische Wirklichkeit, wie wir sic heute sehen, war dramatisch genug, lste sie doch auch die vierzehnjhrige Hildegard gnzlich aus den Zusammenhngen ihrer Familie und einer altersgemen Geschlechtsentwicklung in Begegnung mit jungen Mnnern, wenn auch die Freundschaft der drei Mdchen untereinander einiges aufgewogen haben mag. Diese Entwicklung vertiefte andererseits die durchaus auch altersgeme Introversion, zu der bei Hildegard der Ausbau ihrer reich entwickelten spirituellen Innenwelt gehrte, das intensivierte und inspirierte Lauschen auf ihre Audiovisionen, die sie immer bewuter religis interpretierte. Mit 16 Jahren nahm sie den Schleier. Die kleine Frauenkommunitt verstand sich wachsend als benediktinischer Konvent, der auch weitere Schwestern anzog.

    Hildegard nahm zusammen mit ihren Gefhrtinnen tglich am lateinischen Chorgebet und am Gottesdienst der Benediktiner vom Disibodenberg teil, lernte mit der Liturgie zugleich Latein und die Bibel kennen, die Psalmen vor allem, aber auch das I lohe Lied, dazu die tglich gesungene Musik der Gregioranik. Die geistig hellwache Hildegard gewann unter den Mnchen des Disibodenbergs zugleich einen lteren Bruder und vterlichen Freund, Volmar, der sie, wie wir aus Hildegards vergleichsweise hohem Bildungsstand schlieen knnen, in die Bibliothek der Abtei, also in die Werke der Kirchenvter und auch in die der damaligen griechischen Philosophie samt Naturkunde und Medizin einfhrte. Sowohl der Chorgesang mit seinen biblischen Texten wie auch die Einblicke in die damalige geistige Tradition formten Hildegards Geist und drangen tief in ihr Unbewutes ein, so da die entsprechenden Vorstellungsbilder und Symbole - dazu sogar Bilder aus der jdischen und islamischen Mystik - in ihren Audiovisionen wiederkehren, allerdings in ihr Eigenes hineinverwandelt. Immer mehr umkreisen ihre Meditationen und Imaginationen die Welt der Bibel und der Heilsgeschichte, die sieh schlielich zu einer selbsterfahrenen Schau verdichten, die auch die damalige kirchenpolitische Situation der Christenheit und deren Zukunft einschlo. ber ihre innere Schau teilte sie sich ausschlielich ihrem geistlichen Mentor Volmar, ihrer Meisterin Jutta von Sponheim und nach deren Tod, nachdem sie selbst zur Meisterin des Konvents erwhlt worden war, noch einer jungen, vertrauten Mitschwester, Richardis von Stade, mit.

    Es war ein gewaltiger Einschnitt in Hildegard spiritueller Entwicklung, als sie sich in ihrem 42. Lebensjahr, von ihrer inneren Stimme gedrngt, entschlo, die Visionen der letzten Jahre und die aus ihr geschpfte theologische Erkenntnis in einem Buch zu verffentlichen, das sie Scivias, Wisse die Wege, nennen wollte.

    Es gab fr sic als Frau ohne offizielle theologische Ausbildung, von der die Frau damals generell ausgeschlossen war, keinen anderen Weg, sich in der kirchlichen ffentlichkeit Gehr zu verschaffen, als unter Berufung auf direkte Offenbarung durch den Heiligen Geist, wie sie ihr in den Visionen zuteil wurde. Damit wiederum aber war in der damaligen Zeit die Mglichkeit ihrer Verketzerung und Verdchtigung auf Besessenheit durch unheilige Geister mit eingeschlossen. Es erforderte auergewhnlichen Mut, sich an solch eine Verffentlichung zu wagen. Hildegard erfuhr sich hier - wie auch an anderen Stellen ihres Lebens - von schwe-

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  • Weibliche Spiritualitt bei Hildegard von Bingen

    ren psychosomatischen Erkrankungen heimgesucht, Atemleiden, Augenleiden, Lhmungen, solange sie sich diesem inneren Auftrag verweigerte. Sie wurde, wie sie selbst mehrfach beschreibt, nur krank, wenn sie ihrer weiblichen Schwche nachgab. ffnete sie sich der Aufgabe, die sic rief, allen ngsten zum Trotz, so wurde die Somatisierung berflssig. Diese Frau ist in einer Zeit, in der man kaum die Lebenserwartung von dreiig Jahren hatte, 82 Jahre alt geworden. Sie war hochsensibel auf alle Fragen der inneren Authentizitt und somatisierte, wenn sie sich verleugnete: doch gesundete sie sofort, wenn sie sich riskierte.

    Jedoch ehe sie etwas zu verffentlichen wagte, schreibt sie einen beraus demtigen und angstvollen Brief an den groen geistlichen Mentor des damaligen Europa, an den Abt und Mystiker Bernhard von Clairvaux. Hier lernen wir die Frau Hildegard kennen, die sich durchringen mute zu ihrer eigenen Gre:

    Verehrungswrdiger Vater Bernhard, wunderbar stehst Du da in hohen Ehren aus Gottes Kraft ... Ich bitte Dich, Vater, beim lebendigen Gott, hre mich, da ich Dich frage: Ich bin gar sehr bekmmert ob dieser Schau, die sich mir im Geiste als ein Mysterium auftat. Niemals schaute ich sie mit ueren Augen des Fleisches. Ich, erbrmlich und mehr als erbrmlich in meinem Sein als Frau, schaute schon von meiner Kindheit an groe Wunderdinge, die meine Zunge nicht aussprechen knnte, wenn nicht Gottes Geist mich lehrte zu glauben ... Um der Liebe Gottes willen begehre ich, Vater, da Du mich trstest, dann werde ich sicher sein. Ich sah Dich vor mehr als zwei Jahren in dieser Schau als einen Menschen, der in die Sonne blickt und sich nicht frchtet, sondern sehr khn ist. Und ich habe geweint, weil ich so sehr errte und so zaghaft bin. Gtiger Vater, Mildester, ich bin in Deine Seele hineingelegt, damit Du mir durch Dein Wort enthllst, ob Du willst, da ich dies offen sagen oder Schweigen bewahren soll. Denn groe Mhen habe ich in dieser Schau, inwieweit ich das, was ich gesehen und gehrt habe, sagen darf. Ja, bisweilen werde ich - weil ich schweige - von dieser Schau mit schweren Krankheiten aufs Lager niedergeworfen, so da ich mich nicht aufrichten kann. (Briefwechsel, S. 25 f.; vergl. Vita, S. 133 f.)

    Bernhard antwortet zurckhaltend, hat er doch noch keinen rechten Einblick in Hildegards Werk, das eben entsteht, aber doch ermutigend: Wir freuen uns mit Dir ber die Gnade Gottes, die in Dir ist... Im brigen, was sollen wir noch lehren oder mahnen, wo doch schon eine innere Unterweisung besteht und eine Salbung ber alles belehrt...? (ebd.)

    In aller ffentlichkeit bekannte sich Bernhard von Clairvaux zu Hildegard auf der Synode zu Trier (1147-1148), wo er veranlate, da vor den Bischfen des Reiches und dem Papst aus Hildegards entstehendem Scivias vorgelesen wurde, und das fr Hildegard sehr wichtige Urteil entstand, da ihre Visionen dem rechten, dem Heiligen Geist entstammten.

    So vollendet Hildegard schlielich nach einer Niederschrift, die zehn Jahre in Anspruch nahm, 1141-1151, ihr erstes Werk, Scivias, unter dem stndigen, sensiblen und tatkrftigen Beistand ihres Vertrauten, des Magisters Volmar, und schlielich auch der adligen, jungen Mitschwester Richardis, mit der sie eine so tiefe Freundschaft verband, da sie die junge Frau nicht mehr loslassen wollte, sondern sie bedrngte zu bleiben, als diese eines Tages einem Ruf, selbst btissin in Bremen zu werden, folgte. Hildegard, die Einsame in ihrer Gre, kannte tiefe Bindungen,

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  • Ingrid Riedel

    kannte die Faszination des Eros; Trennung Verlust - durch den Tod schlielich beider Vertrauter - konnte sie nur mit groer Mhe akzeptieren und verkraften, indem sie die Trauerarbeit in ihre Spiritualitt aufnahm. In verwandelter Gestalt findet sich Richardis in ihrem Singspiel im Brautgemach des Knigs wieder.

    Seit Hildegard zu dem stand, was in ihr lebendig war, gewann sie ungeheure Ausstrahlung und Anziehungskraft. Ihr Konvent wuchs zusehends, sprengte die rumlichen Mglichkeiten der Klause bald, so da Hildegard - nicht ohne schweren Konflikt mit dem Disibodenberger Mnnerkloster, das die berhmt gewordene Frau nicht mehr wegziehen lassen wollte - zunchst am Rupertsberg ihr eigenes Kloster erbauen lie, zu dem spter auch noch das Kloster Eibingen kam. Zarteste Seiten kommen bei dieser Frau mit groer Tatkraft zusammen, wenn wir nur bedenken, was es im 12. Jahrhundert bedeutete, eine Abtei erbauen zu lassen, was zunchst mit der Waldrodung begann. Als btissin und Seelsorgerin stand sie ihrem Frauenkonvent vor, dazu war sie Beraterin - auch medizinischer Art - fr zahlreiche Menschen im Umkreis, auch stand sie im Briefwechsel mit halb Europa, wo man sich vom Bischof bis zur einfachen Frau seelsorgerlichen Rat bei ihre holte. Viele Klostergemeinschaften suchten bei ihr so etwas wie Supervision in ihren Gruppenspannungen. Nachweislich hatte sie Kontakt zu Kaiser Friedrich Barbarossa, dessen Regierungsgeschfte sie kritisch kommentierte, was er offenbar akzeptierte, indem er ihrem Kloster einen Kaiserlichen Schutzbrief ausstellen lie, der ihr bei den zahlreichen Lokalkriegen jener Zeit sehr zustatten kam.

    An der Geistesklarheit und kommunikativen Kompetenz dieser Visionrin kann kein Zweifel bestehen. Auch verwechselte sie ihr menschliches Ich nie mit den transpersonalen Bildern und Gestalten, die ihr in ihrer Schau begegneten, eine Unterscheidungsfhigkeit, die bis heute als ein Kriterium dafr gilt, da eine Psychose ausgeschlossen ist. An sich ist ja die visionre Begabung eine natrliche Gabe, zwar selten, aber doch einer nicht unerheblichen Anzahl von Menschen gegeben. Erst Inhalt und Interpretation machen sie zu dem Bedeutsamen, was Hildegards Visionen ber die Bedeutung fr ihre Person hinaus sind. Visionen knnen, wie alle menschliche Erfahrung, auch egozentrisch und inflationr verstanden und gebraucht werden. Hildegard blieb Visionrin von ihrer Jugend bis ins hohe Alter und vermochte von der Mitte ihres Lebens an ihre Schau durch die Niederschrift ihrer ethischen, medizinischen und auch musikalischen Werke einer breiten ffentlichkeit zu vermitteln.

    In ihren Siebzigerjahren schrieb sie ihr bedeutendstes Werk nieder, das ber divi- norum operum, eine einzige gewaltige Vision des Kosmos und der Stellung des Menschen, des Mikrokosmos, als schpferisches Glied im Ganzen, mit allen Geschpfen und Schpfungskrften, vor allem aber mit dem Schpfer selbst auf einzigartige Weise verbunden und vernetzt.

    Aus dieser Stellung des Menschen in kosmischer, geschwisterlicher Nachbarschaft leitet sie ihre Ethik und auch ihre Gesundheitslehre ab.

    Spirituell aufgeschlossene Frauen von heute betrachten Hildegard von Bingen als eine ihrer frhen Wegweiserinnen: Als ich im Herbst dieses Jahres den mutmalichen Ort der Klause auf dem Disibodenberg besuchte, in die die 14jhrige Hildegard damals einzog und wo sie spter am Scivias zu schreiben begann, da berraschte mich ein frisch gepflanzter Rosenstock am Mauerwerk und ein neu

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  • Weibliche Spiritualitt bei Hildegard von Bingen

    angelegtes Labyrinth auf dem Rasen. Das seien Frauen gewesen, sagte man mir, die sich Hildegard, als einer Schwester der Weisheit, bis heute verbunden fhlten, bis heute - oder heute wieder ganz neu?

    II. Hildegards weibliche Spiritualitt

    Was ist weibliche Spiritualitt? Vor allem anderen ist es die Spiritualitt von Frauen, von Frauen in all ihrer Unterschiedlichkeit. Ob es dabei doch etwas Charakteristisches gibt, das bei vielen spirituellen Frauen wiederkehrt, knnen wir vielleicht herausspren oder wenigstens prziser erfragen, nachdem wir uns zunchst einmal auf die Spiritualitt einer Frau wie Hildegard von Bingen besinnen. Ich versuche, zunchst einmal die wichtigsten Zge ihrer Spiritualitt zu umreien:

    Sie ist schpfungsbezogen, schpfungsbejahend und unterscheidet sich damit von jeder weltflchtigen und dualistischen Spiritualitt, wie sie in ihrer Zeit vor allem von den Katharern, den ganz Reinen, wie sie sich nannten, vertreten wurde.

    Sie ist lebens- und leibbejahend und unterscheidet sich damit von der asketischen Spiritualitt, die den Leib durch Kasteiung und Abttung zu berwinden suchte, eine asketische Spiritualitt, die auch Hildegards Meisterin Jutta von Sponheim nicht fremd war, ebenso wie Hildegards jngerer Briefpartnerin, Elisabeth von Schnau, der gegenber Hildegard mehrfach das gute Ma, das Mahalten und die Discretio, die Unterscheidungsfhigkeit zwischen Zutrglichem und Unzutrglichem betont.

    Hildegards Spiritualitt ist seelenbezogen und seelenbejahend und tritt auch gegenber allem, was die psychische Seite des Menschen manipulieren und berstrapazieren knnte, sei es von seiten des Geistes oder des Krpers her, durch bertriebene spirituelle bungen etwa, fr das gute Ma und die Discretio ein. So empfngt sie ihre Schau, wie sie mehrfach betont, einzig in meiner Seele, mit offenen leiblichen Augen, so da ich dabei niemals die Bewutlosigkeit einer Ekstase erleide, sondern wachend schaue ich dies, bei Tag und Nacht. (Briefwechsel, 226 f.) Alle Exaltiertheit und alles Gieren nach psychischen Ausnahmezustnden ist ihr fremd. Doch ist die Seele, die Psyche, fr sie das wichtigste Empfangsorgan fr Botschaften, Bilder und Erfahrungen aus der Transzendenz, die sie unbedingt ernst nimmt.

    So ist denn ihre Spiritualitt erfahrungsbezogen, indem sie nichts einfach aus der Tradition bernimmt, zugleich aber auch die religise, die gesellschaftliche wie auch die medizinisch-therapeutische Tradition ihrer Zeit ernst nimmt, nicht einfach ablehnt, sondern alles berlieferte ins Licht der eigenen spirituellen Erfahrung hlt, es darin prft und evtl, neu versteht. Auch spirituelle Neuerfahrungen, die noch nicht in die Tradition ihrer Zeit passen und die sie deshalb auch ngstigen, teilt sie gewissenhaft und mutig in ihren Schriften mit. Diese Erfahrung aber macht sic in ihrer Seele, in ihrer inneren Schau des Lichtes: Und wie Sonne, Mond und Sterne in Wassern sich spiegeln, so leuchten mir Schriften, Reden, Krfte und gewisse Werke der Menschen in ihm auf. (Briefwechsel, 226 f.)

    Hildegards Spiritualitt grndet und vermittelt sich in bildhaft-symbolischer Schau und der entsprechenden Sprache, im Unterschied zu solcher Spiritualitt, die Imagination und Bild geradezu zu berwinden sucht, ich denke dabei an die Zenbuddhistische Spiritualitt, aber auch an diejenige Meister Eckarts. So verdanken wir

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  • Ingrid Riedel

    ihrer imaginativ-visionr gewonnenen theologischen Erkenntnis vor allem neue Bilder und Symbole, ein neues Menschen- und Weltbild, aber auch ein neues, um die weiblichen Nuancen ergnztes Gottesbild. Hildegards theologisches Denken ist demgem niemals lehrhaft-abstrakt, sondern immer beschreibend-konkret, bildhaft. Es ist intuitiv, assoziativ und verleugnet seinen imaginativen Ursprung nie.

    Hildegards Spiritualitt grndet und vermittelt sich zugleich in auditiven Erfahrungen, Hrerfahrungen von Wort, Klang und Musik. Sie hrt das Licht sprechen; hrt die Elemente der Welt, Feuer, Luft, Wasser und Erde, vor Gott klagen und den Menschen anklagen, da er sie verunreinigt und aus ihren schpfungsgemen Bahnen geworfen habe: Wir, die Elemente, die Lfte, die Wasser, wir stinken schon wie die Pest, wir vergehen vor Hunger nach einem gerechten Ausgleich. (VM III, 2. 133) Sie hrt aber auch das Universum tnen in der nicht irritierbaren Musik der Sphren und der Engel. Hildegards Spiritualitt ist eine zutiefst musikalische, aus innerem Hren geschpfte, die sich in Gedieht und Lied ausdrckt, auch in dem Spiel der Krfte, der Ordo virtutum, dem ersten deutschen Singspiel berhaupt, indem es um das Ringen der Gotteskrfte und deren Gegenkrfte um die Seele des Menschen geht.

    Ein alles durchwirkender Zug in Hildegards Spiritualitt, der mir nun allerdings als ein eminent weiblicher erscheint, ist der zu einer verbindenden und vernetzenden Schau aller Krfte und Gegenkrfte, die das Universum in dialektischer Spannung Zusammenhalten und denen der Mensch ausgesetzt ist, passiv und aktiv, als Miterleidender, aber auch berufen zu verantwortlicher schpferischer Mitgestaltung. Dieser Weltschau Hildegards widerspricht nichts tiefer als der Dualismus der Katharer, die Gott und Welt - wie zuvor schon Seele und Leib - als unvereinbar auseinanderreien und die Welt als widergttlich und verdorben preisgeben, nicht mehr bereit, auch nur ein einziges weiteres Kind in diese Welt zu setzen, nicht mehr bereit, zu zeugen und zu gebren. Hildegard hingegen, obgleich Nonne und btissin eines Benediktinerinnen-Konvents, bejaht mit der Schpfung auch Sexualitt, Zeugung und Geburt und sieht die Menschheit samt dem Kosmos in einem groen Proze des Werdens, der spirituellen und substantiellen Weiterentwicklung, der alle Glieder seines schnen Leibes, des Leibes Gottes also, umfat. In einigen ihrer groartigsten und neuartigsten visionren Bilder schaute sie das Universum als einen einzigen gewaltigen Organismus, als den Leib Gottes, im Rahmen der christlichen Lehre eine khne Vorstellung!

    Hildegard kennt Gottes Liebesfeuer als kosmische Kraft, aber sie kennt auch Gottes Dunkelfeuer. Das dem menschlichen Erleben und der menschlichen Perspektive Dunkle fllt nach Hildegard nicht aus Gottes allumfassenden Energiefeld heraus, kann nicht herausfallen, da es von einem greren Kraftfeld umspannt und getragen ist. Dieser kosmischen Verbundenheit aller Krfte entspricht nach Hildegards Schau auch die Stellung des Menschen im Universum: Alle Krfte in ihm und um ihn herum, auch die zunchst widerstndigen und widerstrebenden, rufen ihn zur verantwortlichen Verbindung mit ihnen auf.

    Ein weiteres noch: In Hildegards Spiritualitt spielt Schnheit eine groe Rolle. Sie unterscheidet sich von solchen Formen der Spiritualitt, die sich mit dem Entstellten, dem Leiden, dem Hlichen identifizieren und davon faszinieren lassen, wie es so manche spirituelle Strmungen der spten Gotik tun mit ihren extrem ent-

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  • Weibliche Spiritualitt bei Hildegard von Bingen

    stellenden Darstellungen des leidenden und gekreuzigten Christus (Passionswege und Kruzifixe).

    Fr Hildegard und ihre Spiritualitt ist Schnheit eine Erscheinungsweise und Offenbarungsweise des Gttlichen. So spricht denn Frau Weisheit, die Sophia, in einer von Hildegards Visionen ber sich selbst: Ich werde mich in schner Gestalt zeigen, glnzend wie Silber; denn die Gottheit, die ohne Anbeginn ist, strahlt in groer Herrlichkeit. (WM X, 1. 281)

    Hildegards Kosmosschrift, das Sptwerk der Siebzigjhrigen, beginnt mit folgender Vision: Und ich schaute ... inmitten der sdlichen Lfte ein wunderschnes Bild. Es hatte die Gestalt eines Menschen. Sein Antlitz war von solcher Schnheit und Klarheit, da ich leichter in die Sonne htte blicken knnen als in dieses Gesicht. (WM I, 1.25)

    Aber auch die durch den Menschen gestrte Schpfung soll nach Hildegard zuletzt wieder in ihre volle Schnheit gelangen: Wenn dies alles geschehen ist, dann werden die Elemente in hchster Herrlichkeit und Schnheit aufleuchten. Alle Hllen der Schwrze und des Schmutzes sind von ihnen genommen. (WM IX, 3. 269) Es drfte sich gewi auch um eine weibliche Komponente in Hildegards Spiritualitt handeln, wenn sie es unentbehrlich findet, auch die schne Kleidung und den edlen Schmuck ihrer visionren Gestalten immer wieder genau zu beschreiben. Kleidung ist fr sie nicht etwas uerliches, sondern Ausdruck der Seele, der inneren Ausstrahlung und deren Gestaltung. So vermutet sie, da selbst die Verstorbenen sich manchmal zurcksehnen nach ihrem Sein im Krper, nach ihrem geliebten Kleid. Das sagt diese Frau in die Jenseitssehnsucht des Mittelalters hinein!

    So schaut und schildert sie selbst die gttlichen Gestalten, die ihr erscheinen, vom Kopf bis zu den Fen in all ihrer Schnheit:

    Ihr Gesicht leuchtete wie die Sonne, ihre Kleider glnzten wie Purpur; um den Hals trug sie ein goldenes Band, mit kstlichen Edelsteinen geschmckt. Sie hatte Schuhe an, die Blitzesleuchten ausstrahlten. (WM X, 1. 281)

    Kein Wunder, da Hildegard bei dieser Einstellung zur Schnheit auch ihre Mitschwestern an den hohen christlichen Festen nicht in Sack und Asche sehen wollte: Sie gingen geschmckt zum Gottesdienst, mit offenem Haar, bekrnzt und in farbigen Schleiern. Eine Idee Hildegards, die ihr von einer etwas suerlichen Nachbarbtissin im noch erhaltenen Briefwechsel stark angekreidet wurde. Hildegard aber fand, da die Brute Christi bei der Begegnung mit ihrem Brutigam nicht in Sack und Asche gehen knnten.

    Hildegards Spiritualitt ist nicht autistisch, ist nicht Selbstgenu wie bei mancher spteren Mystikerin, sondern immer bezogen. Ihre Spiritualitt hat eine therapeutische Komponente. Ihr spirituelles Wissen ist engstens mit einem Heilungswissen verwandt, das sie dem leidenden Menschen zuwendet. Ein bedeutender Teil ihrer Schriften ist therapeutischen Themen gewidmet. Ihr bedeutendstes therapeutisches Thema aber scheint mir das von der gttlichen Grnkraft, der nobilissima viriditas zu sein, die alles durchwirkt und alles verbindet, wie sich in der Farbenergie des Grn bereits die Lichtkraft des Himmels, das Goldgelb der Sonne, mit der Tiefe des Irdischen, dem Blau des Wassers, verbindet. Heilung besteht bei Hildegard im Wiederanschlu des abgesonderten Menschen an seine gttliche Quelle, das Grn. So gelang ihr die Heilung einer psychotischen Frau im Ostergottesdienst, wo diese

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  • Ingrid Riedel

    Frau mit dem Osterwasser und dem Osterfeuer in Berhrung kam und dazu in eine lebendige, mittragende Gemeinschaft, ihre Schwesternschaft, eingebettet war. Dies ist ein Bericht, der auch nach heutigen therapeutischen Erkenntnissen der Heilung einer Psychotikerin zutrglich gewesen sein knnte.

    Das Therapeutikum ist fr Hildegard der Wiederanschlu des Menschen an eine spirituell verstandene Natur mit ihrer Grnkraft und an die spirituell verstandene Menschengemeinschaft mit ihrer Kommunikationskraft. Das Therapeutische besteht in der Wiederverbindung eines jeden, einer jeden mit der eigenen Spiritualitt und damit der Ermglichung transpersonaler Erfahrung, dem Zugang zur Quelle der Grnkraft.

    Der diesen Quellen geffnete und hingegebene Mensch findet zugleich Anschlu an die fr Hildegard im Bild einer mater medicinae erscheinende virgo viridissi- ma, der allergrnsten Jungfrau Maria.

    Hildegards Spiritualitt enthlt Eros, entspringt letztlich ihrer Erfahrung mit dem gttlichen Liebesfeuer, das alles durchwaltet:

    Von der Tiefebis hoch zu den Sternendurchflutet Liebe das All,

    so dichtet und singt sie in einer ihrer Hymnen.

    Ihr spiritueller Eros erschpft sich nicht in einer persnlichen Liebesmystik mit Jesus, wie es in der spteren Frauenmystik des Mittelalters oft der Fall war und wie es oft als ein Charakteristikum von Frauenmystik berhaupt gesehen wurde. Hildegards Mystik und ihr spiritueller Eros umfat in einer berpersnlichen Weise die ganze Schpfung, von der Heilpflanze bis zum Tier, vom Mitmenschen bis zu den Mitgestirnen. Ihr Eros geht nicht einfach nur zu Gott, zum Gttlichen hin, sondern sie liebt mit Gott zusammen, liebt die Schpfung, geht wie Gottes Liebe zur Schpfung und zum Geschpf zurck.

    Deshalb umfat Hildegards Spiritualitt auch die Gesellschaft und die Politik. Hildegard nimmt, unter Rckbezug auf ihre Schau, auch Einflu auf kirchenpolitische und staatspolitische Vorgnge ihrer Zeit, zum Beispiel whrend des gewissensverwirrenden Investiturstreits, bei dem Kaiser Friedrich Barbarossa im Machtkampf mit dem Papsttum mehrere Gegenppste einsetzt: In mehreren Briefen und vermutlich auch persnlichen Treffen redet sie ihm ins Gewissen. Sie nimmt in ffentlichen Reden Stellung zu kirchenpolitischen Mistnden und ficht noch gegen Ende ihres Lebens unter Inkaufnahme groer persnlicher Nachteile eine kirchenrechtliche Streitsache durch, da ein ehedem unter Kirchenbann stehender, aber in der Sterbestunde nach der Beichte losgesprochener Snder in geweihter Erde ruhen drfe, was immer er zuvor getan habe. Wie immer man heute zu ihren kirchenpolitischen Entscheidungen von damals im einzelnen stehen mag, charakteristisch fr Hildegards weibliche Spiritualitt scheint es gewesen zu sein, da sie die Einmischung in politische Vorgnge nicht aus-, sondern einschlo, als Mitwirkung an der Entwicklung von Gottes Welt.

    Im Alterswerk, dem liber divinorum operum, dem Buch der gttlichen Werke, entfaltet sich ihre weibliche Spiritualitt auf besonders anschauliche Weise, wenn wir

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  • Weibliche Spiritualitt bei Hildegard von Bingen

    das weibliche Prinzip ihrer Spiritualitt in dem Verbundenheitsprinzip, in dem Prinzip kosmischer Nachbarschaft alles Lebendigen sehen. Hildegards lebenslange Erfahrung mit Schwesterlichkeit innerhalb einer Frauengemeinschaft mag dem einen empirischen Hintergrund gegeben haben. In der Rckbindung der unverheirateten, jungfrulichen Frau, der Gottesbraut, an Gott, wie es die Nonne verkrpert, lag fr sie - fr die auch Geschlechtlichkeit und Ehe einen hohen Stellenwert hatten - doch auch ein grundstzliches Befreiungsprinzip fr die Frau, ein Modell gleichsam auch fr die Verheiratete, da nmlich die Frau ihre Identitt nicht letztlich als eine vom Mann und dessen Zuwendung abgeleitete verstehen msse, sondern da sie eine eigene, eine gottunmittelbare Identitt habe, als freie Frau. Darin liegt eine wichtige Komponente von Hildegards weiblicher Spiritualitt.

    Hildegards Kosmosschrift schenkt uns zugleich ein wunderbares weibliches Bild des Gttlichen wieder, das, zwar seit den spten Schriften des Alten Testaments, der Hebrischen Bibeln, bekannt, aber in der westlichen Christenheit - anders als in der stlichen - bis dahin wenig beachtet und konkretisiert worden war: das Bild der Sophia, der Weisheit.

    In Hildegards letzter Vision, die sie in ihrer Kosmosschrift schildert, erscheint sie als die alles erfllende Mitte des Weltenkreises, eine wunderschne Frauengestalt, angetan mit einem purpurnen Seidenmantel ber weiem Seidenkleid getragen (in der vorletzten Vision und auch in der Buchmalerei zur letzten erscheint dieser Mantel in Grn, Hildegards edelster und heilsamster Farbe). Das Purpur ist die symbolische Farbe fr den tiefsten Liebesklang, und es entspricht Hildegards letzter Schau, in der die gttliche Weisheit und die gttliche Liebe eins sind. Weisheit ist fr Hildegard die weibliche Kraft, die die Schpfung in Liebe zusammenhlt, die das liebevolle Zusammenwirken aller in allem begrndet. Sophia, Weisheit, ist fr Hildegard die Partnerin Gottes, seine Shakti - wie man in Indien sagen wrde -, seine Entsprechung also, seine Geliebte. Die zugehrige Buchmalerei, vielleicht von einer Frau gemalt, zeigt die Sophia mit lauschendem Ohr und weit geffneten Augen, wie sie sich aus der Mitte des Universums dem Betrachter zuwendet. Zwei unbeschriebene Tafeln in der Hand, wie ein neuer weiblicher Moses, der wohl ein neues Lebensgesetz verkndet.

    Wenn diese Gestalt in der Christenheit damals Fu gefat htte und in unserer Spiritualitt heute Fu fassen knnte, so htte dies, wie ich meine, weitreichende Konsequenzen fr unser Weltbild, unser Frauenbild und nicht zuletzt fr unser Gottesbild.

    Der Schluvers einer Hymne Hildegards, einer Anrufung der heilenden Kraft des Geistes, kann zuletzt noch einmal verdeutlichen, aus welchem Geist sie schaut und lehrt:

    Du auch fhrest den Geist, der deine Lehre trinkt, ins Weite.Wehest Weisheit in ihn,und mit der Weisheit die Freude.(Lied XIX, in Hildegard von Bingen, Lieder)

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  • Ingrid Riedel

    Summary: Hildegards holistic world-view and her holistic view on the human being distinguish her mystic visions from the dualism of the ascetic views prevalent in her times especially in the Catharist movement where soul and body, God and the world were seen as absolutely separate and incompatible with each other. Today Hildegards mysticism is very much up to date since it is the spirituality of a woman who draws on her psyches imagination and inspiration re-imagining female images of God as that of Sophia. On the background of Hildegards spiritual development, especially the unfolding of her audio-visual gifts, the specific way she sees herself becomes clear.

    Key words: mystic vision, female spirituality, experiential spirituality, principle of relation, Sophia - female image of God.

    Literatur:

    I. Werke Hildegards von BingenVita: Das Leben der Hl. Hildegard von Bingen, ein Bericht aus dem 12. Jh., verfat von den Mnchen

    Gottfried und Theoderich, aus dem lat. bers, und kommentiert von Adelgundis Fuhrktter, Salzburg 1972.

    Briefwechsel: Hildegard von Bingen, Briefwechsel. Nach den ltesten Handschriften bersetzt und erlutert von Adelgundis Fuhrktter, Salzburg 1965,19902.

    MV: Hildegard von Bingen, Der Mensch in der Verantwortung. Das Buch der Lebensverdienste, ber vitae meritorum, nach den Quellen bersetzt und erlutert von Heinrich Schipperges, Salzburg 1972; 1985.

    WM: Hildegard von Bingen, Welt und Mensch, De operatione dei. Aus dem Center Kodex bersetzt und erlutert von Heinrich Schipperges, Salzburg 1965.

    Lieder: Hildegard von Bingen, Lieder. Nach den Handschriften hrsg. von Pudentiana Barth, Immaculata Ritscher und Joseph Schmidt-Grg, Salzburg 1969.

    Scivias: Hildegard von Bingen - Wisse die Wege. Nach dem Originaltext des Illuminierten Rupertsberger Kodex, ins Deutsche bertragen von Maura Bckeler, Salzburg 1954; 19878.

    II. Literatur zum Werk HildegardsStaah, F. (1998): Aus Kindheit und Lehrzeit Hildegards. In: E. Frster (Hrsg.), Hildegard von Bingen.

    Prophetin durch die Zeiten. Zum 900. Geburtstag. Herder, Freiburg, Basel, Wien, S. 58-86.Riedel, I. (1994): Hildegard von Bingen: Prophetin der kosmischen Weisheit. Kreuz, Stuttgart.

    Dr. Dr. Ingrid RiedelSackgasse 178464 Konstanz

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  • Transpersonale Psychologie und Psychotherapie1/99,15-31

    Von Herz und Verstand

    Wer wlzt uns den Stein von des Grabes Tr?

    Veronica Gradl, Innsbruck

    Zusammenfassung: Die menschliche Spiritualitt ist nicht fertig - in einem komplizierten Verwandlungsproze mu sie um das Weibliche ergnzt und als ein grerer SYMBOL-Verstand in uns wiedergeboren werden. Dieser Wandlungsproze ist religiser Natur - bzw. das spirituelle Leben ist das grundstzliche Thema der Religion. Insbesondere die jdisch-christliche Religion entwirft in den Erzhlungen, Gleichnissen und Symbolworten der Bibel ein anschauliches Vorausbild von letzter Genauigkeit. Darin wird (Wort-)Bild, was spirituell ist und was es nicht ist.

    Schlsselworte: Weibliche Seelenqualitten, Strukturniveau, Bewutseinsaktivitt ich, Licht und Irrlicht, Entwicklungsgeschichte der Spiritualitt: mnnliche Entwicklungsreihe und weibliche Entwicklungsreihe.

    Das Thema Spiritualitt ist hoch aktuell und ziemlich schwierig. Vor allem dort, wo unbersehbar wird, wie tief und grundstzlich es mit weiblichen Seelen- Qualitten verknpft ist, mit dem Irrationalen, mit Anmutung und Schau, mit Wert- Empfinden, mit Liebe. Es tut sich da ein seltsamer Randbereich des Verstandes auf, der ganz offenbar ein Zwielicht-Bereich ist, eine Dmmerzone voller Tuschungen, in der deutliche Wahrnehmung und genaue Unterscheidung schwierig sind. Dort treiben Intuition und Fhlen geisterhafte Spiele mit Halbverstandenem und lassen einfallsreich die heimlichsten Wnsche mit allen verborgenen ngsten zu Truggebilden gerinnen. Hufig sehen diese so berzeugend aus, da wir sie fraglos fr bare Mnze nehmen. Wunderlich verwechseln wir das Auergewhnliche mit dem Unmglichen und das Selbstverstndliche mit dem Bedeutungslosen. Genau wie es die Mrchen beschreiben, grenzt das Elfenreich direkt und unbegreiflich an die Wirklichkeit. Irrlichter locken ins Bodenlose, als gingen dort sichere Wege. Aber wer glaubt schon an Elfen? Und wer es doch tut, wie glaubt er an sie? Im Zwielicht dieses Randbereiches ist der Verstand so tuschbar wie unsere Augen bei sinkender Dunkelheit - nur wei er es nicht. Deshalb wird auch nicht sichtbar, wie beraus notwendig eine saubere Unterscheidung der Erscheinungen nach Irrtum und Einsicht wre.

    Das Feld der spirituellen Suche ist in rascher Erweiterung begriffen: Auer dem Weltfrieden ist kaum ein anderes Thema hnlich brisant - kein Wunder, da diese beiden Themen, die fr uns alle von hchster Bedeutung sind, unmittelbar miteinander Zusammenhngen: Weltfrieden, ganz auen fr alle, scheint ohne Spiritualitt ganz

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  • Veronica Gradl

    innen im Einzelnen nicht erreichbar - und umgekehrt scheint Spiritualitt ganz innen im Einzelnen nicht wirklich zu werden, wenn ihm der Weltfrieden ganz auen fr alle nicht zum Anliegen wird. Die Spannweite des Problems ist derart gro, da eine Anflligkeit fr die elfenhaften Verlockungen in irreale Zauberreiche und Zauberkrfte nicht verwundern kann: die heimliche Angst ist riesengro, das Gefhl der Ohnmacht niederdrckend. Beide bewirken, da die verborgenen Wnsche nach Sicherheit zu Vtern von oft ziemlich unvernnftigen Gedanken werden.

    Innere und uere Wirklichkeit

    Dringlich wrde sich also die Aufgabe stellen, im wogenden Heer unserer Vorstellungen Schein und Sein zu unterscheiden - ganz genau so, wie wir es auf dem weiten Feld der Realittsbeobachtung mit dem Heer der ueren Erscheinungen auch haben lernen mssen. In bezug auf die uere Welt war solche Unterscheidungsanstrengung ziemlich erfolgreich: so sind die Natur- und Geisteswissenschaften entstanden. Und diese Wissenschaften haben uns unschtzbar viele (lebenswichtige) Kenntnisse ber das Sichtbare gebracht: ber die Welt, in der wir sind, ber die Dinge und ihre Verhltnisse zueinander, ber uns selber und ber die Zeit, ber die gestaltende Kraft von Handlungen und die Auswirkungen von Wirkungen. Aber vielleicht (oder vielmehr gewi!) ist es damit nicht genug. Wir brauchen das Gegenstck dazu genauso dringend: eine Geist- und Naturwissenschaft, die uns ebenfalls unschtzbar wichtige Kenntnisse ber das Unsichtbare vermitteln mu - lebenswichtige Kenntnisse ber die innere Welt, die in uns ist, und wie wir in ihr sind, und wie wir in ihr, mit ihr in uns, in der ueren Welt sind. Das sind Kenntnisse ber das Sein-in-Beziehung und die existentielle Bedeutung der Intention, ber die Weisheit der Zeit und die Geistesgegenwart in der Ohnmacht, ber die Proze-Natur der Gedankendinge und die unaufhaltsamen Wirkungen alles Bewirkens.

    Gibt es weibliche Spiritualitt?

    Mein Anliegen ist es zu skizzieren, inwiefern das, was man weibliche Spiritualitt nennen knnte, mit solcher Geist- und Natur-Wissenschaft des Unsichtbaren zu tun hat, damit nmlich, da der Geist zu unserer Natur gehrt und nicht etwa aus ihr hinausweist (s. Neumann 1997, S. 305-314, v.a. S. 312) was wiederum bedeutet, da aus der sorgfltigen Unterscheidungsarbeit im Elfenreich der inneren Wahrnehmung dringlich die lebensnotwendigen Kenntnisse ber Schein und Sein zu gewinnen sind, damit wir uns nicht unversehens aus der Realitt hinaus ins Bodenlose verlockt finden.

    Genaugenommen ist es ja ein Widerspruch in sich selbst, mnnliche von weiblicher Spiritualitt zu unterscheiden, weil die anspruchsvolle Gabe Geist uns als Mnnern und als Frauen gleichermaen gegeben ist und also unterschiedslos fr uns alle als Wachstums-Aufgabe gestellt ist. Trotzdem scheint es durchaus sinnvoll, darber nachzudenken, ob nicht das Weibliche (und die Frauen) einen wesentlichen, berraschenden und tatschlich spezifisch weiblichen Beitrag zu unser aller menschlicher Spiritualitt zu leisten hat.

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  • Von Herz und Verstand

    Da Spiritualitt das Weibliche berhrt, ist altbekannt, und doch war der Geist durch viele Jahrhunderte betont mnnliche Domne, so sehr, da es zeitweise Zweifel gab, ob Frauen berhaupt daran teilhaben knnen. Im Grund lebt dieser Zweifel auch heute noch fort in der Vorstellung, da spirituelle Entwicklung gleichbedeutend sei mit Ablsung (aus dem Alltag, aus persnlichen Bindungen, aus der Verhaftung am eigenen Sein, aus emotionaler Verstrickung, aus der ich- haften1 Suche nach Individualitt). Ohne solche Ablsung soll Spiritualitt nicht gefunden werden knnen oder doch hchstens in einer sehr abgeschwchten, gewissermaen dumpfen Form. Dem Konkreten verhaftet zu bleiben gilt als gravierendes Hindernis auf dem spirituellen Weg.

    Nun ist aber das Weibliche seiner Natur nach dem Konkreten verhaftet: die Seele denkt nicht abstrakt. Sie ist verbunden, sucht nach Verbindung, stellt Verbindungen her. Sie vergleicht nicht und trennt nicht. Ihre weibliche Aufmerksamkeit gilt dem Besonderen, dem Einmaligen, dem ganz unvergleichlichen Einzelfall eines ganz bestimmten umschriebenen Lebens (INDIVIDUUM), zu dem sie in einmaliger Weise persnlich in Beziehung tritt (Du) (vgl. Neumann 1953; 1997, S. 309).

    Ablsung dagegen ist sozusagen ihrer Natur nach eher eine mnnliche Qualitt: der Verstand ist ausgesprochen freiheitsdurstig. Er strebt nach Ungebundenheit und zielt aus dem Konkreten weg ins Allgemeine. Er unterscheidet und trennt, er vergleicht und abstrahiert, er bildet bergeordnete Begriffe und entzieht sich so der Einengung auf ein Besonderes und Einzelnes: Der mnnliche Verstand vermeidet nach Mglichkeit die konkrete Enge einer einmaligen und persnlichen Beziehung. Du ist ihm zu emotional.

    Und Spiritualitt, was ist das?Wenn Ablsung zur Spiritualitt gehrt - und daran kann es kaum einen

    Zweifel geben -, mte sie mnnlich sein. Dann bestehen auch die Zweifel zu Recht, ob das Weibliche daran teilhaben kann. Wenn es weibliche Spiritualitt gibt, mu sie im Konkreten zu finden sein, das heit, sie kann die Welt nicht verlassen - ist das dann berhaupt noch Spiritualitt? Vielleicht eine besondere Sorte? Eine weibliche?

    Hat GEIST ein Geschlecht? Die Maler vergangener Jahrhunderte stellten diese Frage deutlich mit ihrem Pinsel: Sind Engel mnnlich oder weiblich - oder gar noch so kleinkindlich, da ihr Geschlecht neutral ist, nicht mehr als eine putzige Verzierung? Auch wenn sich der Akzent verschob, gibt doch keine Zeit eine eindeutige Antwort darauf.

    Was ist mit Mnnern und Frauen? Sind sie in erster Linie mnnlich oder weiblich? Oder sind sie eigentlich in erster Linie menschlich? Was wird denn aus der Geschlechtsidentitt? Wohin gehrt die Sexualitt? Und wie verhlt sie sich zu den Geschlechtern? Die Debatten ber Hetero- und Homosexualitt waren hei. Nun scheinen sie sich zu befrieden in gleichberechtigter Koexistenz. Berhrt das die Spiritualitt? Wie? Wo hat das Weibliche seinen Platz? Hat es einen Platz oder mehrere Pltze?

    Heute werden nicht mehr sehr hufig Engel gemalt. Aber die Frage bleibt die gleiche, auch wenn sie inzwischen ganz anders klingt: was wird aus der Verbundenheit in der Ablsung - bzw. inwieweit besteht Freiheit in der Lsung von Bindungen?

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  • Veronica Gradl

    Ist Individualitt eine Einengung oder ein Umkehrpunkt? Gehrt das einmalige Du zum personalen Bereich und mu mit ihm berwunden werden, dort, wo es spirituell wird? Oder gehrt das Individuelle zum personalen Bereich, ganz genau dort, wo er sich spirituell ffnet? Ist das das gleiche? Oder sind das zwei Versionen des gleichen, die zum Verwechseln hnlich und dabei fundamental verschieden sind? Ist transpersonal (noch) personal oder nicht mehr? Das sind schwierige Fragen von hchster Wichtigkeit und Dringlichkeit. Sie fragen nach den Grenzen. Hat Spiritualitt Grenzen? Und wenn, wo - auen als Begrenzung oder innen eingeschlossen, als Strukturelement? Bedeutet Spiritualitt berwindung der Grenzen ins Grenzenlose? Oder umgekehrt: Gehrt die deutliche Ausgrenzung des Grenzenlosen zu der berwindung, ohne die Spiritualitt nicht wirklich wird? Sind das Spitzfindigkeiten? Oder Grundsatzfragen?

    Die Verwirrung sollte uns wecken!

    Vielleicht geht es ja darum, etwas Unerwartetes zu finden, etwas Drittes, etwas scheinbar unmglich Widersprchliches: eine Ablsung ohne Ablsung, ein unverhaftetes Verhaftetsein, eine paradoxe Freiheit in der Einengung, die das Allgemeine im Besonderen findet und das Abstrakte konkret begreift.2

    Dieses Dritte wre also so viel herzliches Verbundensein im Konkreten, wie es vernnftiges Urteil im Allgemeinen wre - so viel Zuneigung zum besonderen Einzelfall, wie Einsicht ins bergeordnete Gesetz - so persnlich zugewandt, wie allgemein menschlich: Es wre gleichermaen Herz, wie es Verstand wre, sozusagen ein weiblich-mnnliches Verstandes-Herz, das versteht, was es liebhat und wie seine Liebe zur Vernunft kommt. Da ist Nchternheit ohne Khle und tiefes Gefhl ohne berschwang. Sparsam in der Auswahl des Wesentlichen und verschwenderisch in der Zuwendung verhaftet sich die persnliche Aufmerksamkeit zielgenau im Konkreten.

    Dies Dritte ist ungefhr das, was in den Begegnungsgeschichten Jesu Gestalt gewinnt, wenn er einem Menschen so gegenbertritt, als gebe es nur diesen einen auf der ganzen Welt, und ihn treffsicher aufruft, nur ihn allein, nach dem allgemeinen Gesetz, dem alle Menschen unterstellt sind. Der Menschen-Sohn der Evangelien ist die Inkarnation des unaussprechlichen Dritten, zu dem wir erst hinwachsen mssen. Wir kreuzigen es am Gegensatzkreuz der vermeintlich unvereinbaren Widersprche, so lange wir seine paradoxe Natur nicht verstanden haben und also auch NICHT WISSEN, WAS WIR TUN. Nur wenn es in der rechten Weise (mit Aufmerksamkeit) von uns begraben wird (im Gar-nichts-Begreifen), kann es auch auferstehen, so da es hervorkommt und neu ins Bewutseinslicht tritt.

    Aber wie wlzt sich der Stein von des Grabes Tr?

    Mein Anliegen ist es nachzuzeichnen, da und wieso ein Niveauwechsel stattfindet, wenn das Weibliche auf richtige Weise in die Spiritualitt eintritt: Obwohl es dabei um Ergnzung mnnlicher Einseitigkeiten durch ihr weibliches Gegenstck geht, erschpft sich dieser Ergnzungs- und Vershnungsproze nicht in der Vervollstndigung des Unvollstndigen. Das Dazutreten des bisher Fehlenden ist

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  • Von Herz und Verstand

    nur ein erster Schritt: Wenn die Ergnzung gelingen und richtig bleiben soll, fhrt sie in einen ganz instabilen Zustand der Auflsung aller bisherigen Orientierungsmittel, der Mastbe und Sicherheiten. Der Verstand versagt, er versteht nichts mehr - und darf doch nicht aufhren zu verstehen, sonst geht er verloren. Wenn aber einer erst den Verstand verlor, ist weder mnnliche noch weibliche Spiritualitt mglich. Da haben dann die Irrlichter den Suchenden erfolgreich ins Bodenlose gelockt. Leider sind das nicht blo Sprachspiele: die Gefhrdung in der bergangszone der Auflsung ist tatschlich hoch. (Neumann 1995, S. 327 ff.)

    Auf Dauer kann das also nicht so bleiben, es mu auf die Ergnzung ein zweiter Schritt folgen, in dem sich Orientierung, Mastbe und Sicherheiten grundlegend gewandelt wiederfinden und eine neue Stabilitt ganz anderer Art zurck-gewon- nen wird: genauso stabil, wie sie in besten Zeiten immer schon gewesen ist - und unausdenkbar ganz anders, als sie je zuvor da war. Dieser zweite Schritt geschieht als ein kreativer Sprung auf ein nchstes Strukturniveau, durch den die Vervollstndigung erst wirklich gltig wird, weil sie in eine berraschend neue Ordnung tritt: Das Gesamtergebnis ist letzten Endes unerwartet ganz anders als das, was bisher war, und lt dies Bisherige dadurch hinter sich, ohne es auszulschen. Unerhrt und unvorhersehbar erscheint damit etwas noch nie Dagewesenes als neu entstandene Lebensform. Was da geschieht, ist ein Schpfungsereignis: Im Integrationsproze, der aus den einigermaen vollstndig versammelten Komponenten in Untergang, Verwandlung, Umgestaltung und Neubeginn ein greres Ganzes hervorgehen lt, erscheint eine komplexere Weise lebendigen Seins, die es zuvor noch nicht gab.

    die es zuvor noch nicht gab: Es ist wesentlich zu realisieren, da das, was weibliche Spiritualitt genannt werden knnte, in einem schpferischen Proze neu entsteht. Sie bleibt nicht im Gegensatz mnnlich - weiblich, sondern umgreift und enthlt ihn in seiner ganzen Spannweite in sich, weil sie Mnner und Frauen, die Paar-Beziehung zwischen ihnen, ihre Geschlechtsidentitt, die Sexualitt, den Trieb und den Geist, Bewutes und Unbewutes zusammen mit den Spannungsfeldern zwischen diesen Polen vollstndig in sich einschliet: Dies Weibliche einer Spiritualitt, die man weibliche Spiritualitt nennen knnte, ist anders weiblich als das, was wir weiblich im Gegensatz zum Mnnlichen nennen.

    Das klingt verwirrend, weil dasselbe Wort auf der einen und der anderen Ebene ganz verschiedene Inhalte umschreibt. Es mu eine Sprache erst entwickelt werden, die eindeutige Verstndigung ber dies Gleichnamig-Unterschiedliche erlaubt. Sprache zur Verstndigung aber entsteht zwischen uns aus gelingender Verstndigung: Das Verstehen kommt zuerst und mu der Entstehung einer angemessenen Sprache fr die Verstndigung ber das Verstandene vorausgehen. Das ist eine schwierige Bedingung, denn ohne Sprache gibt es keine Mitteilbarkeit - wer soll also das Unsgliche an andere so weitersagen, da sie es verstehen, wenn es doch nicht gesagt werden kann? An diesem Punkt stockt unsere Geist- und Natur-Wissenschaft von der Spiritualitt bis heute: In dieser unsglich sprachlosen Form ist sie nicht wirklich gemeinschaftsfhig, weil jeder sie ganz, neu fr sich wieder-erfinden mu. Unwissend mssen wir sie handeln und unverstanden so lange wortlos erfahren, bis ein Verstehen zu dmmern beginnt. Das ist ein ungeheuer schwerflliges Verfahren - in die sichtbare Welt bertragen wre das etwa so, als mte jeder ein

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  • Veronica Gradl

    zelne von uns das Rad ganz neu fr sich erfinden, weil eine Mitteilung ber die Geheimnisse der Kreisbewegung, ber Zentrum und Umfang und ber das radiale Wunder der Speichen noch nicht mglich ist. Kein Hochgeschwindigkeitszug zwischen den Stdten - keine Dampfmaschine -, nicht einmal ein Ochsenkarren - und ein Schpfrad am Wasser bliebe die uerst seltene persnliche Erfindung ganz ungewhnlicher Menschen, jedes einzelne Schpfrad eine originale Spontanmutation und ein einmaliges Ereignis.

    Aber die menschliche Spiritualitt ist nicht dazu bestimmt, eine nicht mitteilbare geheime Erfahrungswissenschaft einzelner und seltene Spontanmutation zu bleiben - im Gegenteil: Sie gehrt zu unserer Bewutseinsbegabung und drngt also nach Sprache, nach der (Mit-)TEILUNG DES WORTES untereinander und in die Gemeinschaft. In wachsender Ungeduld warten Geist-und-Natur auf uns, da wir Spiritualitt als neue, komplexere Lebensform zwischen uns erschaffen. Erste Voraussetzung dafr ist, da ein Verstehen dmmert: Es ist ntig ZU WISSEN, WAS WIR TUN, nicht nur auen, auch innen - nicht nur im Handwerk, auch im Fhlwerk, nicht nur in der Realitt, auch in der Phantasie, nicht nur in der Physik, auch dort, wo es metaphysisch wird. Die geistigen Erscheinungsformen der unsichtbaren Bewutseins-Welt, die sich im Medium unserer Verstandesbegabung entfaltet, mssen genau so przise und kritisch von uns zur Sprache gebracht werden knnen, wie wir es mit den ueren Erscheinungsformen der sichtbaren Tatsachen- Welt zu tun gelernt haben. Auch in unserer Geist-Natur ist Forschung ntig, damit wir die lebensnotwendigen Kenntnisse ber das geistige Leben genauso sicher gewinnen wie sie ber das physische Leben bereits verfgbar geworden sind.

    Unser waches Urteil ber den wirklichen Wert des Gedachten und unsere wachsende Aktivitt der richtigen Auswahl ist drinnen ganz genauso unerllich notwendig wie drauen: Das rationale ich mu so an Helligkeit zunehmen, da es Verantwortung fr die seelischen Dmmerzonen und den Zwielichtbereich des Verstandes bernehmen kann. Das Ich-Sein ist Bewutseins-Aktivitt - und diese Aktivitt (ich) ist die Brcke zwischen Geist und Natur, zwischen Innen und Auen, zwischen dem Unsichtbaren und dem Sichtbaren, zwischen dem einzelnen und der Allgemeinheit, zwischen dem, was gewesen ist, und dem, was sein wird. Als diese Brcke wach zu sein, ist weibliche Spiritualitt, (vergl. Neumann, S. 326 ff.)

    Sie ist fr uns alle (nicht nur fr die Frauen), als Mglichkeit und als Aufgabe, der notwendige nchste Schritt in der Entwicklung DES MENSCHEN. Es ist ein Schritt in Richtung WIRKLICHE GEMEINSCHAFT - das bedeutet z.B.: Spiritualitt" im Dienst einer selbstgengsamen Autarkie - sozusagen eine Single- Spiritualitt - widerspricht sich selbst und ist keine. Und Spiritualitt im Dienst einer Auserwhltheit gehrt zu den Irrlichtern: Sobald berheblichkeit in irgendeiner Form mitspricht, ist der spirituelle Weg schon verlassen. Spiritualitt im Dienst der Schmerz- und Angstfreiheit zielt aus der Realitt hinaus und fhrt ins Bodenlose. Denn IN DER WELT HABT IHR ANGST und auch Schmerzen. Das weghaben zu wollen macht verfhrbar fr die ungezhlten Formen der Elfen- Verlockung mit Unverwundbarkeit und Macht.

    Das Angewiesen-Sein ist ein Strukturelement in dieser nchsten, greren Ordnung: Wir erreichen sie nur, wenn wir einander dabei helfen, wenn wir sie voneinander und freinander lernen, sie aneinander weitergeben und voneinander emp-

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  • Von Herz und Verstand

    fangen wollen, einzeln und gemeinsam fr uns alle miteinander. Dazu brauchen wir ganz innen, jeder einzeln, ein umgewandeltes Streben, mit dem wir andere Wnsche wnschen knnen - und ganz auen allgemein brauchen wir eine erweiterte Denk- Ordnung, in der wir die ntige radikale Umbewertung der zentralen Wertvorstellungen zu denken, zu sagen und zu wissen lernen knnen.

    Was es ist (BRCKE), und was es nicht ist (ABRISS)

    Ein Schritt der Bewutseinsentwicklung wird dann fertig, wenn das Begreifen ein doppeltes geworden ist: ein positives, was es ist - und ein negatives, was es nicht ist. Es ist dieser zweite, negative Schritt der Abgrenzung von allem, was es nicht ist, der fr unsere spirituelle Suche vor allem ansteht: Erst wenn wir verstehen, da und warum manches zwar ganz hnlich aussieht und doch nicht Spiritualitt ist, wird sich uns langsam enthllen knnen, was wir bis jetzt weder sagen noch denken, noch wissen: der ntige grere Umkreis fr unser Denken. Es ist ein grerer Umkreis der Ich-Herrschaft fr ein wacheres Ich in einer tiefer erhellten Welt.

    Urteilswachheit und Aktivitt der Wahl bilden gewissermaen die Summe der Ich-Krfte. In sie geht alles ein, was das Ich ist, hat, wei und will. Sie stammen, wie das ganze Ich-Sein selber, aus dem Kollektiv her, aus dem Ich erwachse - sie sind hchst individuell von mir zu erwerben und mutig als meine subjektive Bewertungstat des einzelnen zu tun - und zielen ber mich hinaus auf die Gemeinschaft, die aus dem Kollektiv durch unser aller je einzelnes Ich-Sein erwachsen will.

    Urteil und Wahl sind an gltige Wert-Ordnung gebunden, weil es ohne diese keine Urteilskriterien und also auch kein Whlen gibt, (sondern nur ein mehr oder minder zuflliges Ergreifen von irgendwas). Urteil und Wahl sind richtende Gewalten: Sie geben Richtung, indem sie scheiden zwischen dem Ausgewhlten und dem Nicht-Gewhlten und zugleich auch zwischen dem Auswhlenden und dem, der nicht auswhlt. So richten sie die Ich-Welt, indem sie sie ausrichten (auf Wesentliches) und einrichten (mit Bedeutungsvollem). Je nach dem, ob und wie ich urteile (was mir bedeutungsvoll ist) und was ich erwhle (als wesentlich), machen sic meine innere Welt reich oder arm (an Wesentlichem) und mich selber reicher lebendig oder aber nicht. Die Lebenskraft, mit der ich ich bin, hngt an der Intensitt und Leidenschaft, mit der ich whle, was mir wert ist. Wo nichts so viel wert scheint, da es als bedeutungsvoll und wesentlich ergriffen werden kann, geschieht gleichgltig und wahllos irgendwas: Das ist ein Zustand des Absterbens (der vermittelnden Ich-Aktivitt), in dem keine Brcken zwischen den Ebenen entstehen knnen, d. h. keine Sinn-Verbindungen zwischen getrennten Bereichen (Innerem und uerem, Vergangenem und Zuknftigem, Eigenem und Fremdem, Denken und Fhlen, Wollen und Tun). Sinn wird real in dem, der ihn erkennt - Sinn wird erfahren, gefhlt, erlebt, gewut: Sinnerfahrung ist Bewutseinsaktivitt, ist ich.

    In der Sinnerfahrung lebendig zu sein ist weibliche Spiritualitt: lebende Bewutseins-Brcke ich zwischen den Bruchstcken der Wirklichkeit, die sich in mir, durch mich, zwischen uns und fr mich-und-uns ganz konkret zu sinnvoller Real-Gestalt verbinden.

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  • Veronica Gradl

    Innen bilden Urteil und Wahl die Brcke zwischen Seele und Verstand, denn sie gehren gleichermaen zur intuitiven Werterfahrung und zum Gefhl, wie zum rationalen Verstand und zur Sprache. Auen bilden sie die Brcke zwischen dem einzelnen und der Gemeinschaft, sowohl im Augenblick wie auch im zeitlichen Ablauf: denn die Zugehrigkeit jetzt besteht aus Wertschtzung und wandelt sich im Lauf der Zeit. Wie Urteil-und-Wahl innen in mir von mir erst erlernt werden mssen, whrend ich ich werde und ursprnglich getragen bin von der Einbettung in der ersten Gruppe der Herkunft -, so sondern sie im Lernproze den einzelnen (mich) allmhlich unerbittlich aus in seine Vereinzelung, stellen ihn gegenber, machen ihn deutlich erkennbar und wirksam - und gliedern ihn endlich, genau dadurch (durch seine gelungene Abgrenzung, Vereinzelung, Einmaligkeit und Wirksamkeit) wieder in die Gruppe ein, in die zweite Gruppe seiner Ankunft, die mit ihm und durch ihn, fr ihn und um ihn entsteht, indem er in sie hineinwchst. Herkunfts-Verbundenheit erster Ordnung wird so durch Transformation in Heimkehr-Verbundenheit zweiter Ordnung hinbergefhrt. Das, was diese Transformation erleidet und tut, ist das Ich: In seiner Weise, mit der Welt in Beziehung zu treten, ist es zuerst mehr passiv, zuletzt mehr aktiv - und von Anfang bis Ende bin ich das Vernderte und der Vernderer und das sich-verndernde Bindeglied zwischen allen Ebenen der sich ndernden Wirklichkeit meiner Welt.

    Dieser Wandlungs-Proze verlangt, da alle Ablsung ohne Abri geschieht.Ablsung innerhalb der kontinuierlich sich wandelnden Ordnungen ist DER

    SPIRITUELLE WEG und zugleich das paradoxe Verwandlungswerkzeug DES WACHSENS: Es ist hchste Ich-Aktivitt der Aufmerksamkeit, die trennt, ohne Trennung zu schaffen, und auflst ohne Verluste - gleichnishaft-wrtlich so, wie das Gehen eines Weges das Zurcklassen (des alten Ortes) in Verbindung (zwischen den Orten) umschafft, indem es ohne Zerstrung (der Landschaft) in Annherung (an den neuen Ort) bergeht. Genau so und doch unvorstellbar ganz anders komplex ist das Gehen des spirituellen Weges, denn der spirituelle Ort der Ankunft ist tief verwandelt derselbe Ausgangsort hier, von dem ich wegging, ohne ihn zu verlassen: Von der Welt in die Welt fhrt der Weg aus dem ersten Ich-Sein durch die Umkehr der Wertordnung ins grere Ich-Sein. Mit wachem Urteil whlend, wird das Ich zur paradoxen Umkehr-Brcke zwischen den Wert-Welten.

    Die Unterscheidung zwischen BRCKE und ABRISS ist schwer

    Beides gibt es in unendlichen Variationen.Die Fhigkeit, ber die Erscheinungen der unsichtbaren Geist-Welt in unserem

    Kopf ein richtiges Urteil zu haben und zwischen Licht und Irrlicht sicher zu whlen, gehrt zur weiblichen Spiritualitt, (vgl. z. B. den Begriff der Weisheit Sophia bei Neumann 1997) Sie entspringt aus dem leibhaftigen Fhl-Wissen um den Wert dessen, was mir wert ist. Solches Fhlwissen um die Wertgewiheit ist (Herzens-) Erkenntnis. Wenn sie sich mit Verstandeswissen verbindet, wird sie dadurch nicht im Wesen anders, nur wibarer, sicherer, differenzierter und auch tiefer: sie schliet das Verstandeswissen in sich ein. Sie bleibt dieselbe Erkenntnis, nur wird sie bewuter: Sie lernt Sprechen, Lesen und Schreiben, sie lernt zu sagen, was sie wei, und zu wissen, was sie fhlt. In solchem verstndigen Erkenntnis -

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  • Von Herz und Verstand

    Wissen des Herzens wirken Denken, Fhlen, Sinneswahrnehmung und Intuition zusammen. Es ist Erkenntnis des Wesentlichen und entspricht einer existentiellen Orientierungsfhigkeit der ganzen Person in der biographischen Lebenslandschaft, nach den komplexen Faktoren der geistigen Ordnung - gleichnishaft-wrtlich genau so (und unausdenkbar komplexer), wie die uere Orientierung in der geographischen Landschaft nach Himmelsrichtung und Sonnenstand, Wegbeschaffenheit, Entfernung, Witterung und eigener Kraft, d. h. nach den komplexen Faktoren der natrlichen ueren Ordnung, eine Einsichtsleistung der ganzen Person ist.

    Diese Orientierungsleistung ist nicht geschlechtsgebunden, aber ich-gebunden, was wiederum bedeutet, da die Geschlechtsidentitt dessen, der (derer, die) da ich sagt, als Strukturbestandteil in diese allgemein-menschliche Ich-Fhigkeit eingegangen ist. Damit ist zugleich gesagt, da es eine spte, reife Fhigkeit ist, die alle Schritte der Identittsbildung, einschlielich der leibhaftigen psychosexuellen Identitt, in sich einschliet. Denn die innerweltliche Spiritualitt, die man weibliche Spiritualitt nennen knnte, enthlt die sozusagen mnnliche berweltliche Spiritualitt, die wir als Spiritualitt zu bezeichnen gewohnt sind, vollstndig in sich. Sie kommt nach ihr, geht ber sie hinaus und schliet sic ein: Sie bringt den Geist aus seinem berirdischen Lichtreich in den dunklen Boden hinunter, da sich die Erde von innen erleuchtet - sie macht das Abstrakte konkret, ohne es konkretis- tisch zu verkrzen - sie realisert DAS SYMBOL als leibhaftiges Leben - sie zieht das Licht in die Nacht, da es IN DER FINSTERNIS SCHEINEN kann.

    Auf diese unsere grere Ich-Aktivitt - auf unsere Urteilswachheit und wachsende Klarheit des Whlens (ich!) - warten Geist-und-Natur mit Seufzen. Sic warten schmerzlich auf unsere Spiritualitt, die unsere grere Ich-Bewutheit ist - sie warten darauf, da aus der einmalig besonderen Spontanmutation im Dasein einzelner (Schpfrad) breit und breiter das bewute Gemeinschaftswerk aller hervorwchst (Wasser-Brunnen zum Bewssern der Seins-cker). Seufzend und unttig mssen sie warten, bis wir das Ntige von selber tun, weil Ich-Aktivitt grundstzlich freiwillig ist und weder verordnet, noch erzwungen noch auch nur beschleunigt werden kann.

    Wir wissen nicht, worum wir bitten sollen

    DOCH DER GEIST VERTRITT UNS AUFS BESTE MIT UNAUSSPRECHLICHEM SEUFZEN, sagte Paulus und bat: HERR, TUE MEINE LIPPEN AUF! Er war ein durchaus Wortgewaltiger und hatte wahrhaftig keine schwere Zunge - und doch fhlte er unmiverstndlich, da ein neuer Mund fr eine ganz neue Rede geffnet werden mte, um das Wesentliche angemessen zu sagen. Das ist fast 2000 Jahre her, 20 Jahrhunderte voller Bewutwerdungsarbeit, voller Forschung und Unterscheidung, voller Pioniergeist, Neugier, Mut und Einsatz. Es ist sehr viel anders geworden in unserem Weltverstndnis - aber im Grunde wissen wir immer noch nicht, um was wir nun wirklich bitten sollen, und das Geheimnis der Spiritualitt scheint um nichts weniger nicht-mitteilbar als vor Zeiten.

    Geist-und-Natur des Menschen ist wachsend, ist Lebewesen, ein seltsam sichtbar-und-unsichtbares Lebewesen, das seine lebendigen Fhler nach drauen, ins sichtbare Auen, genauso vorausstreckt wie nach innen, ins eigene Innere und

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  • Veronica Gradl

    weiter ins Jenseits-von-Drinnen, in dies unsichtbare Auen DES GEISTES, das der Seele innen gegenberstellt. Es wandelt sich mchtig im Lauf der Zeit: Von der Geburt bis zum Tod, von den Tagen des Apostels Paulus bis heute - und es wird sich weiter wandeln mssen, ber uns heute hinaus, weil alles Lebendige in Wandlung lebendig ist und absterben mu, wenn dieser stetige Proze der flieenden Um- und Ausgestaltung ganz zum Stillstand kme.

    Aus diesem Grund ist weibliche Spiritualitt fr Mnner und Frauen gleich lebensnotwendiges Lernpensum: Es ist zweifelhaft, ob uns DER GEIST noch lange weiter VERTRETEN mchte. Ihn fr uns SEUFZEN zu lassen ist auf die Dauer nicht genug. Vielleicht kommt die Zeit nahe, wo wir selber WISSEN MSSEN, WORUM WIR BITTEN SOLLEN, auch wenn das natrlich oft nur sehr stmperhaft, vorlufig und versuchsweise gelingt: Genauso, wie die Wissenschaften von der sichtbaren Welt in Versuch und Irrtum entstanden sind, mu unsere wache Aufmerksamkeit auch ins Unsichtbare der Denkwelten ihre besonnene Neugier voranschicken, um in Versuch und Irrtum zu erproben, was sichere Wege auf dem Boden der Wirklichkeit sind und wie sie sich von elfenhaften Tuschungswegen unterscheiden lassen.

    Was ist Licht und was Irrlicht?

    Leider sind wohl alle diese berlegungen, die mir so dringlich und wichtig erscheinen, auf beklemmende Weise kompliziert, unanschaulich und verwirrend, solange sie in einer profanen Sprache ausgedrckt werden. Das liegt daran, da es keine profane Sprache gibt, die unterscheiden knnte zwischen dem Weiblichen, das der ergnzende Gegensatz zum Mnnlichen ist, und dem greren Weiblichen, das das Mnnliche in das Menschliche einschliet. Denn dies Gleichnamig-Unterschiedliche gehrt zentral zu den noch unverstandenen und unsglichen Themen unserer Unfertigkeit, zu dem Bereich also, der noch nicht ausreichend aussprechlich geworden und deshalb dem Verstand nicht voll zugnglich ist.

    Aber eindrucksvoll, sinnennah und in hchster Genauigkeit anschaulich finden diese Themen sich abgebildet in den Erzhl-Bildern und Denkfiguren der jdischchristlichen Religion. Das ist kein Zufall: Ich denke, da die religise Sprache am weitesten in diesen noch unfertigen Bereich der Weiterentwicklung vorausgreift. Die religise Sprache kommt zu uns durch die Pforte der Intuition. Sie transportiert Information aus dem inneren Jenseits-von-drinnen, aus dem immateriellen Auen DES GEISTES, vor die Augen unserer Seele (so wirklich und so fremdartig uns innen gegenber wie die uere Welt vor den Augen des Krpers wirklich und fremdartig uns auen gegenber ist). Keine Sprache irgendeiner Wissenschaft kann mehr an Wissen um die Wirklichkeit transportieren und von dieser GEIST-Infor- mation ber unser Sein in der Welt so voll sein wie diese traumartigen Denkbilder und Symbolgedanken, die wir durch die intuitiven Pforten unserer Seele zu uns einlassen. Die Seelensprache der Religion ist unwissenschaftlich, aber nicht unwissend - im Gegenteil: in ihr ist alles wibare Wissen keimhaft anwesend, so dicht gepackt, da es fr unsere Verstandesaugen aussieht wie nichts. Spiritualitt ist ein religises Phnomen - oder umgekehrt: Religion handelt vom spirituellen Leben.

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  • Von Herz und Verstand

    Eins wie das andere beschftigt sich mit den uersten, obersten Randbereichen des menschlichen Daseins, in denen unsere Verstandesbegabung sich noch immer im Werden, in Erweiterung und Differenzierung befindet. Da mir die jdisch-christliche Religion am besten bekannt ist, sehe ich vielleicht deshalb die wegweisende Spur in ihren Bildern am deutlichsten - aber es knnte auch sein, (und mir scheint es wahrscheinlich), da sic tatschlich ganz unvergleichlich viel deutlicher als andere Religionen von diesen Wachstumsthemen unserer Unfertigkeit spricht.

    Die Bibel ist ein sehr komplexes Buch

    Sie handelt von der Schpfung der Welt und von der Naturgeschichte der Erde, von der Geschichte des Menschen in der Natur und von der Geschichte des menschlichen Bewutseins im Menschen, von Leben, Tod und Auferstehung, von der Wirklichkeit und von der Tuschung, von der Realitt der Dinge und der Wirksamkeit der Krfte und davon, wie sich DER GEIST INCARNIERT, so da er Realitt in der Zeit wird - d. h. sic handelt von der Spiritualitt und von der jahrtausende-langsamen Entwicklungsgeschichte, die sie in uns hat. Sie handelt von dem schmalen Weg, der ganz genau zu gehen ist, damit er in die Wirklichkeit und nicht ins Elfenreich fhrt - sie handelt von dem scharfen Umkehr-Ort, an dem in Untergang, Umwandlung und Neubeginn diese wirkliche grere Welt des spirituellen Lebens tatschlich betretbar wird. Denn diese grere Welt, die uns die Bibel als DAS REICH wie etwas Jenseitiges verspricht, wird uns ja zugleich von ihr sehr diesseitig und hier als unser eigenes Handeln abgefordert, damit wir sie tun.

    Die Bibel handelt von der INCARNATION durch das Tun nach dem GEIST: Sie handelt von der einen Tr, die der einzige Zugang zum versprochenen REICH ist, und beschreibt sie uns (fr uns unbegreiflich paradox) als soviel Person wie Zeitpunkt, als Entgegenkommen und Entschlu, als einen Zustand, der zu gleicher Zeit Erwartung, Geschenk, Tat und Einwilligung ist.

    Und ber dies alles hinaus handelt sie davon, was dieses alles nicht ist und wie DAS REICH nicht entsteht, obwohl es versprochen ist: von dem breiten Spektrum der Irrtmer, Fehlentscheidungen und Unterlassungen, durch die wir Weg, Umkehr und Tre verfehlen, so da wir ins Bodenlose geraten, wo nur noch Irrlichter geistern und kein Licht scheint, wo weder Zeitpunkt noch Entgegenkommen uns hilfreich auffinden knnen und nicht einmal DER GEIST uns noch lnger SEUFZEND VERTRETEN kann.

    Mein Anliegen ist es, darauf aufmerksam zu machen, da in der religisen Sprache des jdisch-christlichen Glaubens-Ganzen die Naturgeschichte der menschlichen Spiritualitt erzhlt und vollstndig beschrieben ist, obwohl wir sie noch nicht vollzogen haben: Als grandioser Vorausentwurf ist sie anschaulich gemacht in Bild und Wort, als mythische Erzhlung, im Gleichnis und als die reine Gedankenfigur des SYMBOL-WORTES, damit das Unanschauliche, das noch nicht ist, doch schon bei uns sein kann, als wre es bereits in uns Verstndnis geworden und getan. Intuitiv und emotional gelesen, ist das, was in der Bibel steht, zwar jederzeit zugnglich - aber spirituell gelesen, ist sie so abstrakt voller Wissen, da die Relativittstheorie und die Quantenphysik mithelfen mssen, uns ihren Informationsgehalt zu erschlieen. Was sich seit den Tagen der Erzvter im Glauben hal-

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  • Veronica Gradl

    ten lt, knnen wir rational erst verstehen, wenn wir alle Wissenschaft des 20. Jahrhunderts zusammenraffen.

    Von dem, was man weibliche Spiritualitt nennen knnte, steht bei Jeremia (31,22): DER HERR WIRD EIN NEUES IM LAND SCHAFFEN - DAS WEIB WIRD DEN MANN UMGEBEN.

    Fr feministische Ohren klingt das nach Patriarchat und sklavischem Umsorgen. Das wre nichts gar so NEUES IM LAND. Aber als Nachricht von den Erdzeitaltern der Spiritualitt gelesen, spricht dieses Wort ja nicht von der Biologie in der ueren Welt. Es spricht von der Spiritualitt in unserem Kopf: Es meint den mnnlichen Teil des Menschen-Geistes IM MENSCHEN und was der weibliche Teil des Menschen-Geistes tun wird, wenn er erst seiner selbst mchtig geworden sein wird: DAS WEIB WIRD DEN MANN UMGEBEN. Die Verbundenheit wird die Ablsung in sich aufnehmen, die Herzensklugheit wird die Verstandesschrfe einschlieen, und die Geduld wird die Tatkraft mit Umfassungs-Wissen umgeben. Das ist ETWAS NEUES IM LAND, das DER HERR SCHAFFEN mu, weil es nicht schon da ist, sondern erst in schpferischem Sprung entstehen mu.

    Das ist kein einfaches Geschehen. Es ist dazu eine komplexe Erweiterung unseres Bewutseinshorizontes notwendig, eine qualitative Vernderung des Weltbezuges und der Beziehung zur Zeit, die jeden einzelnen Bereich in unseren Denkwelten mit umgestaltet: Das Menschenbild wandelt sich mit dem Weltbild, und kein einziger Gedanke in unserem Kopf bleibt davon unberhrt. Bis in die einzelnen Worte der Sprache hinein wirkt die Bedeutungsverschiebung mit Doppelsinn und Wandlung der transportierten Information: Die alten Wortschluche fllen sich mit neuem Wein - und wir mssen selber Zusehen, wie wir davon nicht betrunken werden.

    Sich besonnen ber den entstehenden Doppelsinn und die Bedeutungsverschiebungen zu verstndigen verlangt eine betrchtliche geistige Spannkraft von uns. Auch diese Spannkraft gehrt zur weiblichen Spiritualitt: es ist weibliche (seelische) Kraft, auch in der Verwirrung und in der Auflsung aller Gewiheit, im Sprachverlust und im Abri jeder Verstndigungsmglichkeit am Sinn, an der Gemeinschaft und an der Hoffnung festzuhalten. Dabei ist der anschauliche Vorausentwurf der Religion eine unschtzbare und unersetzliche Verstndnis-Hilfe: z. B. ist die MARIA der Weihnachtsgeschichte ein gut begreifbares Vorausbild dafr, wie solche Kraft das ganz und gar Unbegreifliche hrt und im Herzen bewegt.

    Die doppelte Entwicklungs-Reihe

    Hier beginnt ein ziemlich ungewohnter Gedankengang, der auf schwer ausdrk- kbare Weise den herrschenden Vorstellungen ber Spiritualitt widerspricht. Es ist ein sehr weiblicher Gedankengang - das bedeutet zugleich, da die Sprache dafr erst im Entstehen ist. Er geht wesentlich davon aus, da unser Verstand, so, wie wir ihn kennen und zu bentzen gewohnt sind, nicht fertig ist, sondern sich in Weiterentwicklung befindet.

    In den religisen Bildern des jdisch-christlichen Glaubens-Ganzen ist eine zweizeitige Entwicklung angedeutet - eine mnnlich-weibliche Doppelreihe von Schritten oder Stufen, die einander vollkommen entsprechen, aber zeitlich gegeneinander verschoben sind. Die mnnliche Reihe luft weit voraus, die weibliche

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  • Von Herz und Verstand

    Reihe hinkt weit hinterher - so weit, da erst bei genauem Hinsehen deutlich wird, wie sehr sie auf vollkommene Entsprechung zur mnnlichen Reihe zustrebt.

    Gehren zur mnnlichen Reihe alle die (bereits fertig gebildeten) Messias- Namen aus Altem und Neuem Testament, so versammeln sich als weibliche Reihe die (noch unfertigen) Beziehungs-Namen, die zu den besonderen Frauen im Alten und Neuen Testament gehren: Den mnnlichen Schritten oder Stufen Vater-Logos- Knig-Knecht-Sohn-Bruder-Brutigam entsprechen auf der weiblichen Seite die Schritte oder Stufen Weisheit-Schwester-Tochter-Magd-Mutter-Knigin-Braut. Es ist dabei charakteristisch, da die Anordnung dieser Beziehungs-Namen (bzw. die zeitliche Reihenfolge ihres Auftauchens in den biblischen Texten) nicht einfach in Spiegelsymmetrie zweimal den gleichen Ablauf zeitverschoben durch gleiche Stationen laufen lt. Die Entsprechung entsteht vielmehr aus Ungleichheiten (wie Vater-Tochter oder Mutter-Sohn). Z. B. gehrt die Erzhlung vom Richter Jephtha und seiner Tochter hierher (Richter 11) oder das uns gelufige Weihnachtspaar Maria mit dem Kinde. Leider ist es aus Platzgrnden unmglich, die Entwicklung dieser Stufen hier nachzuzeichnen. Ich mchte einfach sagen, da es diese Stufen gibt und da jede von ihnen ihre eigene Bedeutung hat. (Die Geschichte von Jephtha und seiner Tochter z. B. beschreibt, wie gefhrlich der heldenmtige Einsatz fr ein hohes Ziel das Sinnen und Trachten eines Menschen trunken machen kann mit Unbedingtheit - und wie seine Seele den Preis dafr zahlen mu. Das ist das Thema Ganzopfer auf einer Stufe, wo es zwar nicht mehr auen als Tier-Opfer erscheint, sondern bereits als seelisches Geschehen erkennbar ist, aber doch noch nicht fertig und richtig ist. Denn so, wie das zwischen Jephtha und seiner Tochter ablief, ist es nicht im Sinn des Lebens!)3 Vielleicht ist erahnbar, wieviel da jetzt ungesagt bleiben mu. Es ist unser eigenes Verstehen, dessen Reifungsstufen da beschrieben werden: unsere eigene Spiritualitt. Das, was sich da in einer mnnlichen und einer weiblichen Weise entwickelt, sind hochkomplexe Bewutseinsstrukturen. Sie stabilisieren sich erst dann in vollkommener Gleichwertigkeit zum Zwiesprache- Paar, wenn auf beiden Seiten eine paradoxe Gleichzeitigkeit aller durchlaufenen Reifungs-Stufen erreicht ist.

    In den biblischen Texten drckt sich das aus durch die Gleichzeitigkeit der Messias-Namen: denn dort, wo die mnnliche Reihe in ihrer Vollendungsform kommt, ist Der Sohn das Wort Gottes und der Vater der Ewigkeit, der Knig aller Knige, der Bruder und Mitknecht. Alle diese Namen sind gleichzeitig gltig, sie sind aufeinander bezogen und durch einander tiefer umschrieben. Zusammengenommen sind sie der Brutigam.

    So, wie wir bis jetzt denken, bedeutet es Festlegung, einen Namen zu bestimmen. Aber hier ist es anders: Dieser wachsende Name aus vielen Namen benennt etwas Weiter-Wachsendes, das bis dahin namenlos war, damit seine Wachstumskraft uns namentlich bekannt (d. h. bewut) sein kann. In wachsender Offenheit wird so das untrennbar Eine ohne Festlegung benannt, damit unser wissendes Begreifen an seinem Wachstum aktiven Anteil haben kann.

    Obwohl also dieser bisher namenlose Inhalt mit Namen-Bildung in die Sprache eintritt, wird ihm doch keine Begrenzung durch seine Benennbarkeit aufgezwungen. Das markiert einen Umkehrpunkt, eine fundamentale Umkehr der Verstandesfunktion: denn bis dahin und berall sonst grenzt der einmal gefundene Name den

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  • Veronica Gradl

    Inhalt ein und legt fest, was er (fr das Bewutsein) ist. Der Name bannt, begrenzt und fixiert - er beschrnkt das unsgliche Gleiten des Namenlosen auf die umschriebene Form, die diesen Namen verdient. So wird es von Adam erzhlt: da es seine Aufgabe war, allerlei lebendige Tiere bei Namen zu nennen - UND WIE DER MENSCH ALLERLEI LEBENDIGE TIERE NENNEN WRDE, SO SOLLTEN SIE HEISSEN.

    Denn der (mnnliche) Anfang der Bewutwerdung ist ablsend: indem er benennt, wirkt er unterscheidend, trennend, fixierend. Er ist erkauft mit einer Einschrnkung der Bedeutungsflle. Wir kennen das gut aus der Wissenschaft: unser Sachverstand hat auch eine (profane) mnnliche Entwicklungsreihe aus nchternen Ent-Tuschungen. Er entwickelt sich zu einer scharfen Begrifflichkeit, die die Dinge erbarmungslos beim Namen nennt. Diese unsere unheilige Verstandesfunktion alleine knnte nie das Leben im Wort lebendig erhalten: sie fhrt weg vom Symbol, hin zum Zeichen. Sie verengt den lebendigen Eindruck bis zum drren Begriff und verwandelt zwangslufig DAS WORT aus seinem kreativen Ursprungszustand in seinen unvermeidlich verkrzten Endzustand der bloen Worte.

    Deshalb ist die andere, hhere (heilige) mnnliche Entwicklungsreihe, von der die Religion mit so viel Nachdruck redet, tatschlich ganz beraus wichtig und notwendig, weil sie ohne Verkrzungen und ohne Lebensverlust der vollendeten Wortgestalt im Bewutsein (LOGOS) zustrebt.

    Der fertige Verstand des Menschen ist Paar und besteht aus Zwiesprache. Dafr mu das Irrationale rational geworden sein, d. h. die Seele (weiblich) mu ebenfalls Sprache gefunden haben, damit der Verstand (mnnlich) in ihr eine ebenbrtige Gefhrtin findet, (vgl. Buber, v. a. 1977 u. 1987)

    Sobald sich nmlich die mnnliche und die weibliche Entwicklungslinie in ihrer fertigen Entsprechung begegnen drfen, wird DAS WORT VOLL (von Symbolbedeutung) und hrt dadurch auf, drrer Begriff (bloes Wort) zu sein. Da kommt der Verstand an einen neuen Ort, nicht mehr neben der Seele, sondern in ihr. UMGEBEN von ihr, wird er neu kreativ, weil er viel mehr Aspekte, Bedeutungen und Beziehungen mitdenken darf, als bisher. Obwohl das ein rationaler Proze der Bewutwerdung ist, kennen wir ihn doch nur durch die Bildersprache der Religion, als eine mythische Zusicherung dessen, was noch nicht ist, aber sein wird (wenn wir es tun).

    Dieser fertige Zwiesprache-Verstand mu erst noch in uns geboren werden: es ist ein Verstand, der die Zukunftsbedeutung des Alltglichen unmittelbar versteht. Es ist Verstand fr den Frieden. In dem mystischen Bild von der Himmelfahrt und Krnung Mariens kommt die Weisheit schwesterlich nachhause zum Wort, als seine Mutter und Magd ist sie ihm Braut. Sie wird eingesetzt als Knigin ber die wirkliche Welt, indem die Realitt sich (uns) vergeistigt. Hier, an diesem spirituellen Entwicklungs-Ort, erscheint NEUES IM LAND: denn mit der Aufnahme des Weiblichen in den Verstand wird das Symboldenken sprachmchtig: das Zeichen fllt sich mit dem lebendigen Sinn des Konkreten. In den Begriffen wird ihre gleichnishafte Bedeutung leibhaftig begreifbar, weil der Leib seine Sinnlichkeit dem Erinnern und der Anschauung ganz direkt zur Verfgung stellt.

    Das ist ein hochkomplexer Proze. Es ist Auferstehung des Wortes im Fleisch und Auferstehung des Fleisches im Wort. Die Sprache kehrt aus der Abstraktheit

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  • Von Herz und Verstand

    ins Leben zurck - einfach und nahrhaft sagt sie das Geistige diesseitig aus, hier, dem Konkreten verhaftet und macht es jetzt in der Welt gegenwrtig, (vgl. zum Begriff der Schechina Scholem 1977, 1991, 1992)

    Aus Platzgrnden (und mehr noch aus Grnden der Komplexitt) ist es nicht mglich, hier die biblische Spur dieses hochkomplizierten Differenzierungs- Prozesses zu verfolgen. Eine streifende Andeutung mu gengen:

    Hierher gehrt das Essen des Bchleins bei Johannes auf Patmos und das Verschlingen des Briefes bei Sacharia. Hierher gehrt die Klage um den Zerstochenen, um den alle Stmme Israels klagen, die Mnner besonders, und ihre Weiber besonders. Hierher gehrt die geteilte Grabsttte Abrahams, in der alle Vorvter samt ihren Weibern bestattet sind, und das neue (ungeteilte) Grab Jesu. Hierher gehren Hiobs Tchter, die Namen und Erbrecht unter ihren Brdern erhielten. Und hierher gehren alle die vielen Geschichten der besonderen Frauen im Alten und auch im Neuen Testament. Diese Geschichten zeichnen die Integrations-Schritte nach, die nacheinander zu tun sind, damit das Weibliche zum Wort kommen kann. Es sind Erweiterungs- und Vertiefungsschritte, durch die Qualitten bewut werden, deren schpferische Bedeutung wir bis heute nicht richtig einschtzen: das Eingedenk-Bleiben und die Beharrlichkeit, das getreuliche Anhaften am Wert und das rechte Begraben des Gechteten, das rckhaltlose Verschwenden und das uerste Gengsam-Sein - und