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07/08 | 2014 Juli/August | 3,50 erziehungs kunst Waldorfpädagogik heute spezial kunst leben

Erziehungskunst Spezial kunst leben

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Erziehung als Kunst | Erziehung durch Kunst

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07/08 | 2014 Juli/August | 3,50 €

erziehungskunstWaldorfpädagogik heute

spezial

kunst leben

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erziehungskunst spezial Juli/August | 2014

2 INHALT

erziehungskunst spezialWaldorfpädagogik heute

78. Jahrgang, Heft 06, Juli/August 2014, Auflage 74.000

Herausgeber: Bund der Freien Waldorfschulen e.V., Wagenburgstr. 6, 70184 Stuttgart, Tel.: 07 11/2 10 42-0

Redaktion: Dr. Ariane Eichenberg, Mathias Maurer, Lorenzo Ravagli

Anschrift der Redaktion: Wagenburgstraße 6, D-70184 Stuttgart, Tel.: 07 11/2 10 42-50/-51 | Fax: 07 11/2 10 42-54E-Mail: [email protected], Internet: www.erziehungskunst.deManuskripte und Zusendungen nur an die Redaktion. Die Verantwortung für den Inhalt der Beiträge tragen die Verfasser.

Gestaltungskonzept: Maria A. Kafitz

Herstellung: Verlag Freies Geistesleben, Maria A. Kafitz

Verlag: Verlag Freies Geistesleben, Postfach 13 11 22, 70069 Stuttgart, Landhausstraße 82, 70190 StuttgartTel.: 07 11/2 85 32-00 | Fax: 07 11/2 85 32-10, Internet: www. geistesleben.com Ti

telbild: Ausschnitt aus einem

Bild von Raphael Kittel /

Schüler der Freien Waldorfschule Dresden zum

Thema

»Was ist Kunst?«

SpurensicherungWas Kunst kann, will oder offen lässtvon Walter Kugler 4

AufmerkenWer ein Künstler seiner selbst sein will, muss aufwachen von Hildegard Kurt 10

Von der Erziehung durch Kunst zur Erziehung als Kunstvon Ulrich Kling 14

Wenn die Kugelkalotte lächeltMathematik als Erlebnis und Kunstvon Stephan Sigler 20

Die Begegnung mit Kunst stößt Türen aufDas Kulturprojekt Stuttgart-Dresden von Gabriele Hiller 26

Eurythmie – eine Kunst in Bewegungvon André Macco 32

In die Zukunft voranschreitenEine 12. Klasse schreibt Anton Tschechows »Kirschgarten« umvon Heidrun Filous 36

Schön viel Musik im Kindergartenvon Susanna Gneist 40

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Kunst schafft Sinn

Liebe Leserin, lieber Leser,

Kunst verweilt nicht und braucht Weile. Kunst verlangt Hingabe – des Künstlersund des Aufnehmenden. Kunst ist pure Aktion in die Fläche, in den Raum, in dasMaterial, in die Farbe, den Ton, in das Wort gebracht. Kunst rebelliert und heilt. Kunstreißt neue Horizonte auf, treibt ungeahnte Fähigkeiten an die Oberfläche. Kunst ver-ändert, hebt den Blick auf die Welt und ihre Wissenschaft versucht sie zu rekon-struieren. Kunst ist Ergebnis und Prozess. Kunst ist Kommerz, Massenproduktion,Spekulationsobjekt und Kapitalanlage. Kunst ist profan, dekadent, heilig ...

Manuel malt tief versunken. Linien, Kringel, Kreuzchen, bunte Flächen, Muster. Erscheint keinen Plan zu haben. Nach einer Weile komme ich wieder zu ihm. Er zeigtmir stolz sein Blatt: Bauernhof! – Manuel zeigt mit bestimmter Geste auf Haus,Wiese, Traktor, Kuh und Katze. Nein, ich muss es mir nicht einbilden – jetzt sehe ichden Bauernhof auch, ich habe nur nicht richtig hingeschaut.Auch Linda schaut. Sie ist im Centre Pompidou in Paris, steht vor dem kubistischenBild »Femme en bleu« von Picasso –»Was ist das? – Kunst?« Ich meine, etwas aus-holen zu müssen, erzähle eine kleine Kunstgeschichte, kann die Stellung und Tie-fen des Kunstwerks nur andeuten. Linda gähnt, hat das Interesse schon verloren.Ihr Kommentar: »Hmmh, bei Kunst muss man doch nichts erklären ...« Ja, ist dasKunst, wenn sie nicht für sich selbst spricht?Ich bin auf der documenta 13 in Kassel. Mein Blick fällt auf die Filzspaten von Beuys.Meine Zähne fühlen sich gleich pelzig an, als ob ich Spinat gegessen hätte. Ich bin fasziniert von dieser Materialkombination – wie 1977 an gleichem Ort von der»Honigpumpe« ... Es ist ein Evidenzerlebnis: Getroffen!Kunst liegt vor ihrer Vermittlung, vor ihrer Rezeption, wie das Wort vor der Sprache.Kunst kann nur geschehen, unmittelbar aus sich heraus und direkt erfasst werden – alterslos. ‹›

Aus der Redaktion grüßt

Mathias Maurer

EDITORIAL 3

2014 | Juli/August erziehungskunst spezial

Schüler der Freien Waldorfschule Dresden zum

Thema

»Was ist Kunst?«

Der Kongress »Zukunft anerkennen – Gegenwart wagen. Der künstlerischeAnsatz in der Waldorfpädagogik«findet vom 1. bis 4. Oktober 2014 inDresden statt.

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Der Kürbis ist uns allen mehr oder weniger vertraut – besonders durch Halloween.Aber was um Himmels willen hat ein Kürbis in einem Museum zu suchen? So ge-schehen in der Ausstellung »Museum des Geldes« in der Städtischen KunsthalleDüsseldorf im Jahr 1978.Da lag ein ausgewachsener Kürbis auf dem Boden eines rechteckigen Raumes, andessen Wänden 31 Schultafeln aufgehängt waren, beschrieben mit Chiffren der ver-schiedensten Art, die thematisch als Annäherungsversuch an den Geldbegriff gele-sen werden können. Von der Decke herab hing ein Triangel und eine Glühbirne, dieihr Licht auf einen Stapel Druckschriften der »Aktion Dritter Weg« verstreute. Desweiteren befanden sich noch ein Videorecorder sowie ein Monitor im Raum. »Unddas soll nun Kunst sein?«, fragte sich so manch ein Betrachter jener Installation vonJoseph Beuys, die den kryptischen Titel »Das Kapital Raum 1970–1977« trug.

Weiser oder Narr?So häufig die Frage, ob es sich bei diesem oder jenem Werk, sei es ein Gedicht, einBild, ein Tonstück oder eine Skulptur, um Kunst handle, so vielfältig, so tiefsinnig und

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»Als Kind ist jeder ein Künstler.Die Schwierigkeit liegt darin,

als Erwachsener einer zu bleiben.«

Pablo Picasso

4 KUNST

SpurensicherungWas Kunst kann, will oder offen lässt

von Walter Kugler

Joseph Beuys, »Das Kapital Raum 1970–1977«

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vor allem widersprüchlich sind die Antworten. Angesichtsder Fülle von Literatur über Kunst und die Künste, überKünstler und Kunstwerke mag es als Zeichen der Ignoranzoder Vermessenheit angesehen werden, wenn hier der Mainstream verlassen und der Standpunkt sowie die Perspektive ein wenig »verrückt« werden – ganz im SinneWittgensteins, der einmal gesagt hat: »Wenn man noch vielverrückter denkt als die Philosophen, kann man ihre Pro-bleme lösen.« Denn: Es ist das Eigentümliche der Kunst,dass es sie als solche gar nicht gibt; es gibt nur Kunstwerkeund Künstler.Möglicherweise hatte Pablo Picasso dies im Sinn als er aufdie Frage nach der Kunst antwortete: »Wenn ich wüsste, wasKunst ist, würde ich es für mich behalten.« – Die Frage »Wasist Kunst?« setzt voraus, dass es eine eindeutige Bestimmt-heit, ein Regelwerk dessen, was Kunst ist oder nicht ist, über-haupt gibt. Und wie auch immer solche Festlegungenausfallen, ihnen allen ist gemeinsam, dass sie die Sphäreder Kunst schon längst verlassen haben. Das muss mannicht beklagen, denn so, wie unser Stoffwechsel nicht ohnedas Nerven-Sinnessystem oder die Atmung und Blutzirku-lation funktionsfähig ist, so ist auch die Kunst auf andereAktivposten angewiesen, wie zum Beispiel die Wissenschaftund Technik, aber auch auf Religion und Ethik.Es war 1978 nicht das erste Mal, dass ein Kürbis in einemKunstwerk die Aufmerksamkeit auf sich zog, einmal abge-sehen von Stillleben, in denen gemäß diesem Genre inimmer wieder anderen Konstellationen Pflanzen, Früchte,tote Tiere und anderes abgebildet wurden. Zum BeispielAlbrecht Dürers Kupferstich »Der heilige Hieronymus imGehäuse« aus dem Jahre 1514. Der Blick des Betrachterswird in das Arbeitszimmer und auf den im Bildhintergrundan seinem Schreibpult sitzenden Hl. Hieronymus gelenkt.Im Vordergrund ruht ein Löwe. Und dann jenes merk-würdige Gebilde, das von der Decke herabhängt: Ein vonunten ausgehöhlter Kürbis, der die Assoziation eines Lam-penschirmes hervorruft – eine Zivilisationserscheinung,die aber erst 400 Jahre später in den Alltag Einzug hielt.Dürer war ein hoch gebildeter Mann und zudem eingroßer Künstler, der mit seinem auf das Jahr 1500 datierten

5KUNST

Clara Franke & Deborah Geppert

Folgen Sie hier den Bildern und Gedankender Schülerinnen und Schüler aus Dresden

zur Frage »Was ist Kunst?«durch die gesamte Ausgabe …

Maria-Annabella Rendel

Kunst ist …1. Etwas Beeindruckendes, etwas von dem ich meine Augen nicht

mehr abwenden kann – und etwas, das mein Herz berührt.

2. Eine Idee umzusetzen, bevor dies ein anderer unternimmt.

Jolien Trog

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»Selbstporträt« einen entscheidenden Schritt indie Neuzeit getan hat, gleichsam eine verbild-lichte Auslegung der »Imitatio Christi« als einZeichen für die Nachfolge (imitatio) der göttli-chen Schöpfung (creatio) durch den Künstler.Der historische Hintergrund von Dürers Bild-Geschichte war ein Streit zwischen den Kirchen-vätern Hieronymus und Augustinus um die»lächerliche Kürbisfrage«. Hieronymus, vom PapstDamasus mit der Übersetzung des Alten Testa-mentes beauftragt, hatte in Ermangelung eines lateinischen Wortes für das Blatt eines Kürbisses,das Jonas vor Ninive den ersehnten Schatten spen-dete, das Wort für Efeu gewählt, was in Rom einenSturm der Entrüstung auslöste und Augustinus zuheftiger Kritik an den Übersetzungskünsten desHieronymus veranlasste. Hieronymus setzte sichzur Wehr und wies darauf hin, dass es in erster

Linie auf den Gestus eines Wortes – den Schutz vor der Sonne – ankomme und nichtauf den Namen. Gut tausend Jahre später griff Erasmus von Rotterdam dieses Thema im Rahmen sei-ner Kritik an den orthodoxen theologischen Bibel-Exegeten, die zusehends die Kraftdes Wortsinns zu verkennen schienen, wieder auf. Es ging ihm um das lebendigeWort, nicht um erstarrte Philologie, darum sein Ausruf: »Lieber mit Hieronymusein Narr sein, als mit dem Volk der modernen Theologen ein noch so berühmterWeiser«. Für einen Narren hat mancher auch Beuys gehalten. Dass aber hinter vie-len seiner Werke ein ganzer Kosmos von Wissen und innerer Aktivität steht, lehrt unsdas Beispiel vom Kürbis.

Wie Kartoffeln im KellerWas aber macht ein Werk zu einem Kunstwerk? Ist es seine Geschichte, ist esdie handwerkliche Meisterschaft seines Schöpfers oder sein gleichermaßen zurück-wie auch vorausschauender Blick? Sicherlich mag all dies zutreffen, aber zunächsteinmal erleben wir ein Kunstwerk wie ein freies Feld, dessen Sinn und Zweckverrätselt ist und sich jeder eindeutigen Bestimmung entzieht. Es setzt Zeichen desLebens, denen das Sterben bereits innewohnt. Es verweist auf jenes Stück Leere, dasauch jedem Denken, jeder Wahrheit eigen ist. Für den Betrachter, Leser oderZuhörer geht es um die Freisetzung von etwas, das gefangen ist in sich selbst, ge-fangen zwischen Geist und Materie, Heiligem und Profanem, Form und Funktionoder, wie es Hegel in seiner Jenaer Realphilosophie formulierte, um die ›Nacht

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6 KUNST

Albrecht D

ürer, »Der heilige Hieronymus im

Gehäus«, Kupferstich, 1514

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7KUNST

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Christine Knoll

der Welt‹, denn: »Der Mensch ist diese Nacht, dies leereNichts, das alles in ihrer Einfachheit enthält, ein Reichtumunendlich vieler Vorstellungen, Bilder, deren keines ihm ge-rade einfällt oder die nicht als gegenwärtige sind. Dies istdie Nacht, das Innre der Natur, das hier existiert – reinesSelbst […] es hängt die Nacht der Welt einem entgegen.«Bis etwa Anfang 1800 sprach man nicht von »Kunst«, son-dern von den »Schönen Künsten« oder auch von den»Freien Künsten«. Mit »Freien Künsten« bezeichnete manin der Antike diejenigen Lerninhalte, die nur freien Bür-gern, also nicht Sklaven, zugänglich waren. Dazu zählten –und dies bis zu Beginn der Neuzeit – Grammatik, Rhetorik,Dialektik, Arithmetik, Geometrie, Musik und Astronomie.Mit dem Begriff »Schöne Künste« verband man eine Auf-fassung des Schönen (gr. kalon), die besagte, dass schön ist,was sich in der Öffentlichkeit sehen lassen kann, was sichihr als würdig erweist. Spuren davon finden wir heute nochin Redewendungen wie »Das ist schön von Dir«, die eineZustimmung eines Anderen oder mehrerer Anderer in sichträgt. Hingegen war das Hässliche (gr. aischron) das vor derÖffentlichkeit zu Verbergende, das, was keine Zustimmungfindet.Erst mit Beginn der Aufklärung hat sich, auch durch dieneue philosophische Disziplin der Ästhetik, ein Begriff vonKunst entwickelt, der uns heute noch beschäftigt, vor allemaber herausfordert. Mit ihm einher ging die Herauslösungder Kunst aus (vor-)bestimmten Lebensbezügen, die durchBegriffe wie Baukunst, Schmiedekunst und andere be-zeichnet waren. Die Kunst erhielt eine eigene Klangfarbeund wollte von nun an nichts anderes sein als Kunst. Siebegab sich auf den Weg der Verselbstständigung. Mit Kantgesprochen: Sie setzte ein Zeichen der Selbstständigkeit desÄsthetischen gegenüber der praktischen Zweckbestimmungjedweden Dinges. Damit hat sich aber nichts Besonderes,nichts von der Welt Abgesondertes auf eine eigene Um-laufbahn begeben, sondern etwas Eigenes neben alles an-dere, schon Vertraute, gestellt.Das Kunstwerk, so Heidegger, ist letztlich ein Ding wieandere Dinge auch: »Das Bild hängt an der Wand wie einJagdgewehr oder Hut … Die Werke werden verschickt wie

Christian-Dietrich Morawitz

Kunst muss nach sauren Gurkenschmecken, sonst ist es keine Kunst.

Friedemann Schwenzer

Kunst ist, wenn der Wecker jeden Morgen um 6 klingelt –

und man aufsteht.Cleo Gelke

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Zum Autor: Dr. Walter Kugler

studierte Musik, Erziehungswissen-

schaften und Politologie, promo-

vierte über die Selbstverwaltung der

Waldorfschulen, lehrte an der

Universität Köln und unterrichtete

1979–1982 an der Waldorfschule in

Kassel. Seit 2008 Professor of Fine

Art an der Brookes University

Oxford. Er war viele Jahre Mit-

herausgeber der Rudolf Steiner

Gesamtausgabe, leitete zehn Jahre

das Rudolf Steiner Archiv und

kuratierte zahlreiche

Ausstellungen mit Werken von

Rudolf Steiner in Museen weltweit.

Literatur:

L. Wittgenstein: Vermischte Be-

merkungen. Eine Auswahl aus

dem Nachlass, Frankfurt 1977;

A. Weis: »… diese lächerliche

Kürbisfrage … Christlicher

Humanismus in Dürers

Hieronymusbild«,

in: Zeitschrift für Kunstgeschichte,

45. Band, H. 2/1982;

E. v. Rotterdam, zitiert nach

F. Verspohl: Joseph Beuys. Das Kapital

Raum 1970-77, Frankfurt 1984;

G.F.W. Hegel in Jenaer Real-

philosophie, Bd.II;

H.-G. Gadamer: Die Aktualität des

Schönen, Stuttgart 1977;

R. Steiner: Das Wesen des Musika-

lischen, GA 283;

M. Zwetajewa: »Die Kunst im Lichte

des Gewissens«, in: Ein gefangener

Geist, Frankfurt 1989.

KUNST8

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Kohlen aus dem Ruhrgebiet … Beethovens Quartette liegen in den Lagerräumendes Verlagshauses wie die Kartoffeln im Keller.« Der Zusammenhang von Kunstund Leben wird evident, auch wenn unsere Denkmuster uns immer noch glau-ben machen wollen, dass Kunst etwas Elitäres, vom Leben Abgehobenes sei.Ein besonderer Charakterzug der Kunst ist die Fähigkeit zur Transformation. Aberauch das ist nicht neu, sondern hat schon eine Tradition. So finden wir bei Sokrateszum Beispiel den Begriff der »Hebammenkunst«. Damit wird aber nicht die Tätig-keit der Hebammen als solche in die Künste eingereiht, sondern der Gestus, derdiese Tätigkeit ausmacht. Hebammenkunst im Sinne von Sokrates ist ein pädago-gisches Prinzip, was soviel bedeutet wie: Der Lernende ist der Gebärende und seinLehrer die Hebamme, der mit Hilfe eines ausgeklügelten methodisch-didaktischenSystems Fragen an den Schüler richtet, die diesen veranlassen, selbst zu einer Lösungoder Erkenntnis eines Sachverhaltes zu kommen.

Zarte EmpirieDieser Transformationsprozess kann wie ein Vorläufer von Beuys erweitertemKunstbegriff verstanden werden. Beuys beschäftigte sich zeitlebens mit der Fragenach der Kunst, nach ihrem Wesen, vor allem aber ihrem Werden, dessen Dynamikin der Bearbeitung neuer Stoffe liegt, zu denen für ihn auch das soziale Lebengehörte. Fragen nach der Kunst an sich oder ihrem Wesen waren ihm ein Gräuel.Ihm ging es um die konkrete Wahrnehmung, um das Erfahren von Dingen undVorgängen.Damit bewegte er sich auf einem Terrain, das schon Rudolf Steiner beackert hatte– so zum Beispiel in einem Vortrag am 29. September 1920: »Da handelt es sichdarum, dass Fragen wie: Was ist das Wesen der Kunst? Was ist das Wesen des Men-schen? –, die nach einer Definition hinauslaufen, überhaupt ganz aufhören werden.Es handelt sich darum, dass wir immer mehr begreifen müssen, was solche Men-schen wie Goethe gemeint haben, der in seiner Einleitung zur Farbenlehre sagt:Man kann eigentlich nicht über das Wesen des Lichtes sprechen; die Farben sindTaten des Lichtes. Und wer eine vollständige Beschreibung der Farbengeschehnissegibt, der sagt dann auch über das Wesen des Lichtes etwas. Wer also auf die Tatsa-chen irgendeines Gebietes, irgendeines Kunstgebietes in einer Form, die dem Er-leben dieses Kunstgebietes nahe kommt, eingeht, der gibt allmählich eine Art vonBetrachtung über das Wesen des betreffenden Kunstgebietes. Aber das wird über-haupt überwunden werden, dass an die Spitze oder sonst irgendwie ohne Zusam-menhang Definitionen hingestellt werden, dass Fragen aufgeworfen werden: Wasist das Wesen des Menschen, was ist das Wesen der Kunst und dergleichen?« Wel-chen Wert Goethe der Erfahrung beimisst, formulierte er einmal so: »Es gibt einezarte Empirie, die sich mit dem Gegenstand innigst identisch macht und dadurchzur eigentlichen Theorie wird.«

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Chroniken suchender SeelenDie zahlreichen Kunstwerke verschiedenster Gattungen derletzten dreitausend Jahre liegen heute vor uns ausgebreitetwie Tagebücher eines Geschehens, das uns die Geheimnissedes Werdens der Menschen ent- und zugleich verschlüsselt.Diese Chroniken suchender Seelen legen Zeugnis ab vonVorgängen, die uns die Bezüge zwischen Mensch und Natur,Geist und Materie, Göttlichem und Irdischem, aber auchvon Verzweiflung und Hoffnung, Zerstörung und Sinn-gebung, Vertrauen und Misstrauen, Rationalität und Irrationalität vor Augen und Ohren führen. Und sie er-zählen uns auch, dass Kunstwerke nicht dazu geeignet sind,uns klare Begriffe und Erkenntnisse von Dingen und Vor-gängen zu liefern. Sie sind uns vielmehr gegeben, die Sehn-sucht wach zu halten und den Willen herauszufordern,Begriffe selbst zu bilden. Und sie gemahnen uns daran,dass vordergründig die Kunst keinem Zweck dient undsich nicht instrumentalisieren lässt.Die russische Dichterin Marina Zwetajewa hat in äußersterErregung über Kunstkritiker die Aufgabe der Kunst einmalso beschrieben: »Was lehrt die Kunst? Das Gute? Nein.Denken, Klügerwerden und Verstehen? Nein. Sie kannsogar sich selbst nichts lehren, denn sie ist – gegeben.« Unddieses Gegebene ist ein Geschenk, nicht selten wundersamverpackt. Die Anleitung zum Öffnen müssen wir allerdingsselbst finden. ‹›

Ein besonderer Charakterzug

der Kunst ist die Fähigkeit

zur Transformation.

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KUNST 9

Clara Pontius

Franziska Gille

Cleo Gelke

Kunst ist der Ausdruck für das Fassbareund die Realität. Kunst ist wie eine Sprache, die das Wesen der realen und fassbaren Dinge zum Ausdruck

bringen will.Christian-Dietrich Morawitz

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Die Soziale PlastikEin Gespür für die Dimension von Kreativität kann sich einstellen, sobald klarwird: Die gesamte vom Menschen gemachte oder geprägte Welt geht aus Gestal-tungsprozessen hervor. Ob Landmine, Autobahnnetz, Kinderzeichnung oder Wirtschaftssystem, ob Bio-Piraterie, Energie-Genossenschaft, Musikstück, Massen-tierhaltung oder Schule – alles bezieht seine Existenz und Beschaffenheit aus vonMenschen getroffenen Entscheidungen. Alles ist Materialisierung bestimmter Gedanken, Visionen, Ambitionen, Sehnsüchte, Ängste oder auch Aggressionen, istgeprägte Form – auch wenn manches Gestaltete wenig stimmig erscheinen magund den künstlerischen Sinn kaum befriedigt.»Alles ist Skulptur«. In dieser Einsicht fand Joseph Beuys den Schlüssel zu sei-nem – nach eigenem Bekunden – wichtigsten Beitrag zur Kunst, wofür er die grif-fige, aber im Grunde nach wie vor rätselhafte Formel »jeder Mensch ein Künstler«prägte. In seiner letzten großen Rede, die er bei der Verleihung des Wilhelm-Lehm-bruck-Preises zwei Wochen vor seinem Tod hielt, erklärte Beuys, der erste Impulsfür die Erweiterung der Kunst sei für ihn von Lehmbrucks Skulpturen ausgegan-gen. Durch sie habe er verstanden, dass Skulptur oder Plastik nicht nur eine räumliche Kategorie, sondern auch ein überräumliches und überzeitliches Prinzipsei, wirksam in den seelischen und geistigen Kräften jedes einzelnen Menschen.Die Idee »Soziale Skulptur« oder »Soziale Plastik« zielt also nicht darauf, Objekte

in die Welt zu bringen. Sie will vielmehrden gesellschaftlichen Organismus in allseinen Funktionen aus den gegenwärti-gen Deformationen überhaupt erst inhumane Formen bringen – human imSinne von menschenwürdig, was ökolo-gische Gerechtigkeit mit einschließenwürde. Mithin ergreift plastisches Ge-stalten hier nicht mehr nur physisches,sondern auch geistiges und seelischesMaterial. Die primären Werkstoffe derSozialen Plastik sind das Denken,

10 KUNST

AufmerkenWer ein Künstler seiner selbst sein will, muss aufwachen

von Hildegard Kurt

»Alles kann der Mensch ergreifen – vor allem

sich selbst.«Albert Steffen

Überreife Äpfel oder

»Vom Es zum Du«

(Foto: Rebecca Gasson)

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11KUNST

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Fühlen und Wollen. Auch das Wahrnehmen, Sprechen,Hören und der Austausch gehören dazu. Oft erstarkt derkünstlerische Sinn an Verdorbenem, an Leid und Schmerz.Er regt sich sodann als Willensimpuls hin zu einem inner-lich beweglicheren, sich selbst ergreifenden, sich verleben-digenden Menschsein: »Die alte Gestalt, die stirbt odererstarrt ist, in eine lebendige, durchpulste, lebensfördernde,seelenfordernde, geistfördernde Gestalt umzugestalten.Das ist der erweiterte Kunstbegriff« (Beuys).

Das innere AtelierDer primäre Ort, an dem solches Umgestalten stattfindet,ist jenes »innere Atelier«, das jedem Menschen von Ge-burt an zur Verfügung steht, selbst wenn es oft ein Lebenlang unerkannt bleibt. Die Beuys-Schülerin Shelley Sacks,Leiterin des Social Sculpture Research Unit an der OxfordBrookes University, GB, der weltweit ersten Forschungs-einrichtung zur Sozialen Plastik, spricht hier von einem»mietfreien Raum«, zu dem wir alle permanenten Zuganghaben, und der noch dazu mobil ist. In dieses innere Ate-lier hineinzufinden, erfordert bereits ein Tätigsein deskünstlerischen Sinns. Es geschieht, wenn ich innerlich einwenig hinter mich selbst zurücktrete und beginne, mirdabei zuzuschauen, wie ich sehe, höre, denke, fühle, inAustausch trete. Von seinen ersten, oft faszinierenden,mitunter auch mühsamen Anfängen an beinhaltet dieserPerspektivwechsel einen Freiheitsprozess. Denn indem ichvon der Warte des »stillen Betrachters« aus – teilnahms-voll, ohne zu verurteilen – mich selbst dabei wahrnehme,wie ich mich gegenüber dem, was ist, verhalte, identifi-ziere ich mich nicht mehr damit. Auch werde ich dannüber kurz oder lang bestimmte Muster, Gewohnheiten, garAutomatismen erkennen, die mein Verhalten prägen, aberbislang unbemerkt blieben. Und auf einmal sehe ich zuvorunbemerkte Wahlmöglichkeiten in dieser verborgenen,aber so aktiven, wirksamen Sphäre. Ich komme an An-satzpunkte, von denen aus es möglich wird, mein Wahr-nehmen, Denken, meine Reaktionen und Aktionen zuentautomatisieren. Welch eine Befreiung! Und was für einneuer, zukunftsvoller Raum tut sich da auf! Kann ich doch

Ciara Franke

Elisabeth Ehrlich

Elise Weltzel

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Page 12: Erziehungskunst Spezial kunst leben

hier tatsächlich, so wie ein Bildhauer es mit Holz, Marmor, Metall oder Wachs tut,die unsichtbaren, aber sehr wirksamen Werkstoffe bearbeiten, von deren Be-schaffenheit das, was ich tue und einbringe, abhängt. Immer mehr werde ich damitzum Künstler, zur Künstlerin – von der Art, wie die Welt sie jetzt dringend braucht,um aus der sich globalisierenden »Todeszone« (Beuys) herauszufinden. Doch: So elementar das »innere Atelier« für eine Zukunft mit Zukunft sein dürfte,so desolat ist oft sein Zustand. Mehr denn je wird dieser Raum von Mächten belagert und besetzt, die darin nichts zu suchen haben: von Stress und Angst, dieihn zusammendrücken; vom allgegenwärtigen abstrakten Denken, das die Weltdurchweg planbar machen will und damit oft alles – außen wie innen – planiert;von Drogen; von den kaum noch eindämmbaren Fluten der Medien- und Unter-haltungsindustrie … »Der Verlust des inneren Raumes ist eine der größten Wun-den«, sagt die Kulturwissenschaftlerin Christina Kessler.Die kompromisslose, geradezu kämpferische Entschlossenheit, mit der einst Jesusdie Händler aus dem Tempel trieb, vermittelt eine Vorstellung von der Willens-kraft, die es heute braucht, um den Tempel in uns, das innere Atelier vor Missbrauch zu schützen. Tatsächlich gehört wohl zum Signum der Gegenwarts-situation: Erstmals in der Geschichte wird es für die Menschheit überlebenswich-tig, diesen primären Raum, der in uns und zugleich kosmisch ist, zu erschließen,darin zu arbeiten, ihn zu pflegen, zu schützen. Wo ein blinder Fleck war, soll jetztein primärer Arbeitsplatz entstehen; eine primäre Werkstatt, in der wir alle schöp-ferisch am »Großen Wandel« (Joanna Macy) mitwirken.

Ästhetik als Gegenteil von AnästhesieNoch einmal zurück zu der Tiefendimension der Freiheit, die sich – weit über diebürgerliche Freiheit hinaus – beim Arbeiten im inneren Atelier auftut. Es ist die Freiheit, nicht bleiben zu müssen, was und wie wir sind; die Freiheit, sich selbst er-greifen zu können; an den spezifisch menschlichen Eigenschaften und Fähigkeiten

plastisch zu arbeiten; die Freiheit, sichin Entwicklung zu bringen und einan-der dabei zu unterstützen, in einem lebenslangen, individuellen und vorallem auch gemeinschaftlichen Prozess.Eine Gleichung hierfür könnte »Bildung= Selbst bildung = Transformation =Kunst« lauten.Vor diesem Hintergrund kann, wie Shel-ley Sacks und der Philosoph WolfgangWelsch vorschlagen, »Ästhetik« neu ver-standen werden und zwar als Gegenteil

12 KUNST

Zur Autorin: Dr. Hildegard Kurt,

Mitbegründerin des »und.Institut

für Kunst, Kultur und Zukunfts-

fähigkeit e.V.« in Berlin, ist Kultur-

wissenschaftlerin, Autorin und auf

dem Feld der Sozialen Plastik tätig.

www.hildegard-kurt.de

www.und-institut.de

Literatur:

Shelley Sacks und Hildegard Kurt:

Die rote Blume. Ästhetische Praxis in

Zeiten des Wandels, mit einem

Vorwort von Wolfgang Sachs,

Jasedow 2013

»Was erfahre ich von dir?«

Vom Beobachten zum Betrachten,

Stille als Werkstoff.

Entschleunigung erleben

(Foto: Rebecca Gasson)

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13KUNST

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von Anästhesie. Damit beinhaltet »ästhetische Praxis« einverlebendigtes Sein jenseits der allgegenwärtigen Betäubun-gen und inneren Absenzen. Und das wiederum verändert,wie Shelley Sacks erklärt, den Charakter von »Verantwor-tung«. Denn ein verlebendigtes Sein braucht keine Orientie-rung von außen per Vorschrift oder Gesetz. Im Prozess des Sich-Verlebendigens kann »Verantwortung« sich zurFähigkeit weiterentwickeln, aus eigener ethischer Intuitionheraus »auf ein Vernommenes zu antworten« (MartinBuber). Auch hier also ist dann der künstlerische Sinn amWerk: das – mit Beuys gesprochen – Vermögen, »aus Liebezur Sache« heraus kreativ zum Agenten, zur Agentin desWandels zu werden, und sei es im kleinsten Umkreis.Auf welchen Wegen aber lässt sich, etwa in der Schule, zueiner solchen »ästhetischen Praxis« finden? Zu einem künst-lerischen Bilden, das zugleich Selbstbildung ist? Wie denPunkt erreichen, wo mit einmal ein Aufhorchen, ein gedul-diges Schauen, eine volle, gegenwärtige Stille entsteht?

Vom Es zum DuEs erstaunt immer wieder, auf welch einfache Weisen sichdas Wahrnehmen, auch das Denken entautomatisierenlassen. Manchmal genügt die Einladung, sich einem Dingder Natur – einem verrotteten Apfel vielleicht oder einemmit Flechten bewachsenen Ästchen – einmal versuchsweiseauf ungewohnte Art zu widmen; ihm fünf Minuten Zeit zuschenken, so aufmerksam wie möglich und mit der Frage:»Was erfahre ich von dir?« Es gibt hier weder richtig nochfalsch. Nur verschiedene Grade des Aufmerkens. Wo es ge-lingt, in ein ruhiges, präsentes, offenes Betrachten zu fin-den, kann erlebbar werden, wie der so genannte Gegenstandvor einem beginnt, zum Gegenüber zu werden – zu einemGegenüberlebenden, Gegenwartenden, Wartenden. Was,mit Martin Buber gesprochen, eben noch ein »Es« war,verwandelt sich in ein »Du«. Eine Begegnung mit etwasLebendigem findet statt. Und diese Begegnung wirkt wieaus der Zeit gehoben.Dabei lässt sich spüren: Das, was die Welt lebendig hält,ist immer da. Nur wir sind ganz oft nicht da. Unser Auf-merken fehlt. Der künstlerische Sinn schläft. ‹›

Franz Peschel

Freyja Lobers

Kunst ist nicht die Abbildung der Wirklichkeit, sondern

die Erschaffung einer eigenen Welt

Martha Tille

Kunst ist das Tor in neue WeltenWanda Klemm

Kunst ist nicht nur im MuseumMartin Schmieder

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Wodurch wird Pädagogik zur Kunst?Schon bei den herkömmlichen Kunstformen ist es schwer zu sagen, was wahreKunst eigentlich ausmacht. Der bayerische Komiker Karl Valentin äußerte sich zudieser Schwierigkeit humorvoll: »Wenn du es kannst – ist es keine Kunst. Wenndu es nicht kannst – erst recht keine.«Dass es keine Kunst ist, wenn man nichts kann, überrascht nicht. Natürlichbenötigt ein Maler Kenntnisse von der Wirkung der Farben, ein Graphiker Zei-chentechniken, ein Musiker muss sein Instrument beherrschen. Ein echter Künst-ler darf kein Dilettant sein. Umso mehr verwundert, dass perfektes Können nichtmit Sicherheit Kunst hervorzubringen scheint. Perfektion kann dazu verleiten, imReproduzierbaren verhaftet zu bleiben. Rudolf Steiner ging es darum, neben demWas, dem Inhalt, den Blick vor allem auf das Wie, das heißt, das Methodische desUnterrichtes zu lenken. Wie geht der Lehrer vor?Hier bedarf es zunächst einer Selbsteinschätzung des Lehrers: Neige ich dazu, dasWesen jedes einzelnen Kindes auf mich wirken zu lassen, um in meinem Unter-richt ganz und gar darauf einzugehen? Oder drängt es mich, die Schüler mit In-tentionen und Themen, die mir als unentbehrlich erscheinen, zu beeindruckenund zu begeistern?In der bildenden Kunst finden wir diese beiden gegensätzlichen Ausrichtungenwieder. Der Maler Cezánne beispielsweise setzte sich zum Malen so lange voreinen Berg, bis er formulierte: »Die Kunst steckt in der Natur. Das Geheimnissteckt im Sichtbaren, nicht im Unsichtbaren.« Ganz anders der Maler Gauguin:»Ich schließe meine Augen, um zu sehen.« Der Erziehungskünstler findet sowohlin der impressionistischen als auch in der expressionistischen Haltung Quellen,aus denen er schöpfen kann: Ich lenke den Blick auf meine Schüler und bezieheihre Eigenheiten und Bedürfnisse in meine Unterrichtsgestaltung ein. Zudemwerde ich den Schülern mit meinen unverwechselbaren persönlichen Aus-drucksformen begegnen. Durchschauen doch viele Schüler sofort, ob ein Lehrerihnen mit aufgesetzten, vorgeformten Verhaltensweisen oder authentisch undgleichzeitig an ihnen interessiert entgegentritt.

erziehungskunst spezial Juli/August | 2014

14 KUNST

Von der Erziehung durch Kunst zur Erziehung als Kunst

von Ulrich Kling

Pädagogik eine Kunstform?Der Lehrer ein Künstler? SeinUnterricht ein Kunstwerk? DieSchule ein Atelier? Steiner be-griff die gesamte von ihm in-spirierte neue Pädagogik als

Kunst. Eine »Erziehungs-kunst« möge in der 1919 be-

ginnenden Schulform um sichgreifen. Mit diesem Anspruchtraf Steiner bei den Pädago-gen der damaligen Zeit auf

Verwunderung und trifftdamit auch heute noch auf

Unverständnis.

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15KUNST

2014 | Juli/August erziehungskunst spezial

Das Unerwartete zulassen und Neues entwickelnSteiner rief die Lehrer der Waldorfschule dazu auf, nichtDefinitionen an die Schüler heranzutragen, sondern mitihnen lebendige Begriffe zu entwickeln. Er schickte siedamit auf die Suche nach einer Begriffsbildung, die sichmit dem Heranwachsenden entfaltet. Dabei muss ein Leh-rer in der Begegnung mit Kindern auf das Unerwartete ge-fasst sein. Kaum einer beschreibt dieses Wagnis besser alsPablo Picasso: »Ich suche nicht – ich finde. Suchen, dasist ein Ausgehen von alten Beständen und ein Findenwol-len von bereits Bekanntem im Neuen. Finden, das ist dasvöllig Neue, das Neue auch in der Bewegung. Alle Wegesind offen, und was gefunden wird, ist unbekannt. Es istein Wagnis, ein heiliges Abenteuer.Die Ungewissheit solcher Wagnisse können eigentlich nur jene auf sich nehmen, die sich im Ungeborgenen geborgen wissen, die in die Ungewissheit, in die Führer-losigkeit geführt werden, die sich im Dunkeln einem unsichtbaren Stern überlassen, die sich vom Ziele ziehenlassen und nicht – menschlich beschränkt und eingeengt –das Ziel bestimmen.Dieses Offensein für jede neue Erkenntnis, für jedes neueErlebnis im Außen und Innen, das ist das Wesenhafte desmodernen Menschen, der in aller Angst des Loslassensdoch die Gnade des Gehaltenseins im Offenwerden neuerMöglichkeiten erfährt.«Jeder Lehrer kennt diese Situation: Gut vorbereitet, mitfestgelegten Zielsetzungen betritt er das Klassenzimmer;doch ach, die Schüler sind um keinen Preis der Welt dazuzu motivieren, seinen Ausführungen etwas abzugewin-nen. Ein ganz anderes Thema liegt in der Luft. WelcherMut ist jetzt erforderlich, die lieb gewonnene, gründlichdurchdachte Vorgehensweise an den Nagel zu hängen, umdas Vorgefundene zu würdigen und darauf, wie auchimmer, einzugehen.Tatsächlich geht es einem Lehrer nicht selten wie einemBildhauer, der, von einer konkreten Vorstellung geleitet,beginnt, einen Stein zu bearbeiten. Doch das Material istoft eigenwillig und will sich nicht seiner Absicht beugen.Ein Künstler wird auf die Beschaffenheit des Materials ein- › Friedemann Schwenzer

Gesine Schafer

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KUNST16

erziehungskunst spezial Juli/August | 2014

»Jeder Mensch ist ein Künst-ler. Damit sage ich nichtsüber die Qualität. Ich sage

nur etwas über die prinzipielleMöglichkeit,

die in jedem Menschen vorliegt. Das Schöpferischeerkläre ich als das Künst-lerische, und das ist mein

Kunstbegriff.« Joseph Beuys

Being Beuys Foto: skaisbon / photocase.de

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gehen. Er muss Feinfühligkeit entwickeln und seine Im-pulse darauf abstimmen. Dem Ergebnis wird man an-merken, ob der Bildhauer ausschließlich handwerklichoder im eigentlichen Sinne künstlerisch mit dem Steinumgegangen ist, ob er sein Motiv mit der Eigenart des Ma-terials ins Gespräch gebracht und beide dadurch verwan-delt hat.

Wodurch wird ein Lehrer zum Erziehungskünstler?Nicht umsonst nehmen künstlerische Erfahrungsfelderan den Waldorflehrerseminaren einen beträchtlichenRaum ein. Künstlerische Tätigkeit erweitert nicht nur dieeigenen Ausdrucksformen, sondern auch das Wahrneh-mungsvermögen. Jede intensive Vertiefung einer künstle-rischen Disziplin eröffnet neue Sichtweisen. Gerade imUmgang mit sogenannten schwierigen (besser: verhal-tensoriginellen) Kindern ist der Lehrer gesegnet, der recht-zeitig einen Perspektivwechsel vornehmen kann. DieKunst lenkt die Aufmerksamkeit auf Form und Farbe, aufKlang und Harmonie, auf Geste, Mimik und Bewegungs-arten. Atmosphärisches wird spürbar, ein intuitives Erfas-sen stellt sich allmählich ein. Im Zusammensein mitKindern geschieht oft Unvorhergesehenes. Wie wichtig isthier Einfallsreichtum.Jedem Kunstwerk geht ein künstlerischer Prozess voraus.Dieser Prozess ist nicht voraussetzungslos. Er benötigteinen Raum, in dem er sich entfalten kann. Aber nicht nureinen äußeren Raum, in dem er in Erscheinung tritt, son-dern auch einen inneren Raum, einen Seelenraum, in demFragen, Interesse und die Bereitschaft zur Auseinander-setzung wachsen können.Wie in jedem künstlerischen Prozess werden sich in die-sem inneren Geschehen nach einer Anfangsbegeisterungnotgedrungen schon bald Krisen einstellen. Welcher Lehrerkennt nicht die Momente quälender Unsicherheit: Errei-che ich die Schüler? Ist nicht die gesamte zurückliegendeEpoche misslungen? Diese Selbstzweifel führen nicht selten gerade bei Berufsanfängern zum verfrühten Abbruchihrer Lehrertätigkeit. Doch halt! Der Bildhauer Alberto Giacometti ermutigt uns, nicht vorschnell aufzugeben.

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KUNST 17

Hannah Bothur

Johanna Enders

Kunst ist die Erbse unter all den Matratzen

Maria-Annabella Rendel

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Page 18: Erziehungskunst Spezial kunst leben

Im Scheitern sieht er eine Chance: »Je mehr man scheitert, desto erfolgreicher istman. Wenn alles verloren ist und man dann, statt aufzugeben, doch weitermacht,so erlebt man den einzigen Augenblick, wo die Aussicht besteht, ein bisschen vor-wärts zu kommen. Man hat plötzlich das Gefühl, und wenn es nur eine Illusionist, dass sich etwas Neues aufgetan hat.«

Dem Neuen einen Raum gebenWieder geht es darum, dem Neuen Raum zu geben. In jedem künstlerischen Pro-zess tun wir Schritte, durch die sich Erfahrungsbereiche öffnen, die uns bisherunbekannt und fremd waren. In diesen Phasen müssen Verunsicherungen, jasogar Ängste oder Aggressionen ausgehalten werden. Viele Künstler können vonsolchen existenziellen Krisen berichten. Rückblickend beschreiben sie solche Ein-schnitte als Phasen einer notwendigen Verwandlung, die vollkommen neue künst-lerische Ausdrucksformen hervorbrachte.Gerne greift ein Lehrer auf bewährte Arbeitsblätter und Unterrichtsformen zurück.Wer wollte es ihm bei der häufig anzutreffenden Arbeitsüberlastung verübeln?Doch schleichen sich unmerklich Gifte für eine lebendige Begegnung mit den Kindern ein, nämlich Routine, Konvention und Phrase. Jeder Kunstform istjedoch Bewegung, also Beweglichkeit, eigen. Die Künste bieten uns einen Reich-tum an Vielseitigkeit und Abwechslung.Einige Jahrzehnte nach Steiner sorgte ein bis heute umstrittener Künstler für eineneuerliche Erweiterung des Kunstbegriffes: »Jeder Mensch ist ein Künstler.«Doch wird dieser Satz, für den Joseph Beuys viel Unverständnis erntete, meistnicht in seinem Zusammenhang wiedergegeben. »Jeder Mensch ist ein Künstler.Damit sage ich nichts über die Qualität. Ich sage nur etwas über die prinzipielleMöglichkeit, die in jedem Menschen vorliegt. Das Schöpferische erkläre ich alsdas Künstlerische, und das ist mein Kunstbegriff.«Nehmen wir Beuys beim Wort, so treffen in einem Klassenzimmer viele Erzie-hungskünstler aufeinander – zum einen der sich bewegende Lehrer, zum anderen die sich körperlich, seelisch und geistig bildenden Kinder. Der Erzie-hungskünstler bietet den Raum, in dem sich die schöpferischen Kräfte der Her-anwachsenden entfalten können. Schiller sah im Spieltrieb die eigentlichschöpferischen Kräfte des Menschen. Beuys bezieht auf oft extreme Art den Spiel-trieb in sein Schaffen ein. Er betonte in seinen Installationen und Aktionen fürviele Zeitgenossen in irritierender Weise die einem Kunstwerk zu Grunde liegende Bewegung. Das Resultat erinnert im besten Falle an den vorausgegan-genen Prozess. In seinen Fluxus-Aktionen ließ er Sprache, Klang und Plastik ineinanderfließen. Dadurch demonstrierte er, dass nur der sich bewegende, aufMaterial und Umgebung und sowohl auf äußere wie auch innere Umstände ein-gehende Mensch Neues hervorzubringen vermag.

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18 KUNST

Freies Geistesleben

Espen TharaldsenVerwandlung des AlltagsRudolf Steiners Ästhetik.Aus dem Norwegischen von Jürgen Vater. 208 Seiten, mit farb. Abbildungen, gebunden mit SU | € 24,90 (D) ISBN 978-3-7725-1888-1www.geistesleben.com

Espen Tharaldsen legt eine origi-nelle neue Deutung der Kunst-anschauung Rudolf Steiners miteinem Schwerpunkt zum Verständ-nis der organischen Architektur vor,die auch in ihrer stilistischen Formbesticht. Der Leser wird anhandeiner Erzählung in Dialogform auflebendige Art mit der Thematik vertraut gemacht, und in die Frage‹Was ist Kunst?› eingeführt.

Sowohl im 20. als auch im 21.Jahrhundert hat sich die organi-sche Architektur als eine Alter-native zu den vorherrschendenRichtungen gezeigt … In EspenTharaldsens Buch ist sie nun zuWort gekommen. Das ist kein unbedeutendes Ereignis.»Gunnar Danbolt, Professor für europ. Kunstgeschichte

Rudolf Steiners Ästhetik

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Espen Tharaldsen

Rudolf Steiners Ästhetik

Freies Geistesleben

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19KUNST

2014 | Juli/August erziehungskunst spezial

Was brauchen unsere Kinder, um einmal Neues hervor-bringen zu können? Drei Voraussetzungen sind unentbehrlich: Zum einenbraucht jedes Kind seine persönliche Entwicklungszeit, inder es zu sich selber findet und seine schöpferischen Kräfteentfalten kann. Zum anderen bedarf es eines unabhängi-gen, geschützten Raumes, eines Ateliers, in dem sich dieHeranwachsenden, frei von ökonomischen Zwängen, inmöglichst vielseitiger Weise ausprobieren können. Undnicht zuletzt sind Erziehungskünstler gefragt, die auf-merksam werden auf die den Kindern innewohnendenKräfte und Impulse. Eine Pädagogik, die sich als Kunstversteht, trägt dazu bei, Ausdrucksformen zu finden fürdas Unbekannte und Unaussprechliche, dem die Kinder inder Welt und in sich selbst begegnen.‹›

Je mehr man scheitert, desto erfolgreicher ist man.«Alberto Giacometti

Zum Autor: Ulrich Kling war als Klassen- und Musiklehrer an

der Inkanyezi-Waldorfschool in Johannesburg/Südafrika und an

der Freien Waldorfschule Tübingen tätig. Heute unterrichtet er an

der Freien Waldorfschule in Backnang.

Literatur:

Heiner Stachelhaus: Beuys, Berlin 2006

Hayo Düchting: Cezánne, Köln 1999

Robert Goldwater: Gauguin, Köln 1989

Carsten-Peter Warncke: Pablo Picasso, Köln 1991

James Lord: Alberto Giacometti, Zürich 2004

Jolien Trog

Josias Kaiser

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Page 20: Erziehungskunst Spezial kunst leben

Wenn die Kugelkalotte lächeltMathematik als Erlebnis und Kunst

von Stephan Sigler

KUNST20

Der Mathematikunterrichtkann helfen die eigene

Urteilskraft zu entwickeln, die in die Welt hineinführt.

erziehungskunst spezial Juli/August | 2014

Der Mathematikunterricht in Mittel- und Oberstufe steht leider nur selten in Ver-dacht, ein Ort zu sein, an dem sich die Phantasie, der künstlerisch-ästhetische Sinnund die wirklich selbstständige Urteilskraft entfalten können. Viel eher gilt es dochdie historisch gewachsenen Weisheitsschätze des Faches verständlich aufzubereiten,so dass sie den Schülern zugänglich werden. Ein guter Mathematiklehrer ist einer,der »gut erklären«, kann – so die landläufig geäußerte Meinung. Insofern ist die Ma-thematik despotisch: Der Schüler hat ihr Sosein zu akzeptieren und sich ihm anzu-bequemen. Gelingt dies, so gilt Mathematikunterricht als erfolgreich.Rudolf Steiner fordert in einem Vortrag vom 5. September 1919 zur »AllgemeinenMenschenkunde« etwas ganz anderes: Man dürfe dem Kind in der beginnendenSchulzeit mehr zumuten beim Lernen von Lesen und Schreiben, man dürfe dabeimehr auf die Entwicklung der Intellektualität schauen. Man dürfe es dann aberkeinesfalls versäumen, in der Mittelstufe die Phantasie fortwährend in die herauf-kommende Urteilsbildung hineinzubringen. Eine bemerkenswerte Aussage: Lieber stärker die Intellektualität in den erstenSchuljahren entwickeln, als zu unterlassen, ab der Mittelstufe die Phantasie in dieUrteilskraft der Schüler hineinbringen!Wie kann man mit einer solchen Aussage in der Praxis umgehen? In einer Alters-stufe, in der sich die Kraft des Intellekts mächtig regt, dessen Klugheit abgezirkeltzum Einsatz kommt, in der aber auch die Argumente ungeheuer flexibel genutztwerden und wo alles so geschickt dargestellt wird, dass es zweifellos richtig ist, wasgesagt wird. Auch wenn vor fünf Minuten gerade das Gegenteil behauptet wurde, wasjedoch keinesfalls die Konsequenz, das gerade Behauptete zurückzunehmen, nachsich zieht. Die Gedanken folgen den Wünschen, man legitimiert immer gerade das,was man sich wünscht. Die Logik in der Gedankenführung hilft dabei ungemein, ga-rantiert aber natürlich nicht den Realitätsbezug der Gedanken! Die Logik dient als Er-füllungsgehilfe des eigenen Wunschlebens.

Mathematik macht phantasievoll und urteilsfähigAuf was aber muss sich das Denken stützen, so dass es sich aus dem Wunschlebenbefreien kann? Dass das Urteilen sich an den Tatsachen der Welt entzündet undwieder in sie hineinführt? Dass es zum ureigenen Denken und Urteilen wird?

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Und welche Rolle spielt dabei die Phantasie? – Hier einBeispiel aus dem Mathematikunterricht der Mittelstufe,das mit folgender Vorstellungsübung beginnt:

2014 | Juli/August erziehungskunst spezial

KUNST 21

Laura Meyer

Liselotte Walter

Kunst ist auch nicht mehr das, was sie mal war.

Max Ziem

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Page 22: Erziehungskunst Spezial kunst leben

Im Unterricht würden die Schüler diese Figuren anhand einer Schilderung desLehrers in ihrer Phantasie erzeugen müssen. Die Worte des Lehrers müssen dabeiso gewählt werden, dass sich die gemeinten Figuren und ihre Bewegungen im Inneren entfalten – und zwar in großer Eindeutigkeit. Eine solche Übung appelliertnatürlich an die Phantasie, so dass überhaupt Bilder entstehen können. In der Kom-position der Bilder ist der Schüler aber dann nicht frei, sondern stark geführt in etwas,was genau so oder so ist. Aber meine Phantasie ist es, also ich bin es, der die Er-scheinung hervorbringt. Das Phänomen erscheint also nur, weil ich es hervorbringe.Ohne meine Hervorbringung gibt es kein Phänomen. Ich begebe mich völlig in dengeschilderten Zusammenhang und die Prozesse hinein und lebe dort darinnen. Ichkomme ganz von mir los, identifiziere mich mit der Sache. Es findet ein unbeding-ter Zusammenschluss zwischen dem Gegenstand und mir statt. Ich lebe im vor-stellenden Bewusstsein – aber mehr auf der produktiven Seite der Phantasie, also aufder Seite des Willens, nicht auf der Seite des reflektierenden Verstandes.Nun werden im Unterricht diese verschiedenen Stationen des Prozesses gezeichnet,die Seitenlängen der entstehenden Rechtecke ermittelt und der Umfang sowie dieFläche berechnet und tabellarisch notiert.

erziehungskunst spezial Juli/August | 2014

22 KUNST

Die erste Station

g und h sind die jeweiligen

Rechtecksseiten;

U ist der Umfang,

A ist die jeweilige Fläche

Zusammenstellung der

verschiedenen Stadien

Seitenlänge, Umfang und

Fläche der Rechtecke

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Page 23: Erziehungskunst Spezial kunst leben

23KUNST

2014 | Juli/August erziehungskunst spezial

Erstaunt kann man bemerken, dass die beiden Rechteckeimmer gleichen Flächeninhalt haben, gleichgültig wo sichder Schnittpunkt der waagerechten und der senkrechtenLinie befindet. Durch die tabellarische Zusammenstellungwird diese Figur dem Vorstellungsleben zugänglich ge-macht. Die Vorstellungsübung bringt noch nicht jene Klar-heit, die bis zu den Maßzahlen für die Längen und Flächenhinunterreicht. Dazu müssen wir den Prozess in Einzel-schritte zerlegen, von denen wiederum jeder für sich ange-schaut und analysiert werden muss, um vorgestellt werdenzu können. Damit hat man aber den Zusammenhang, derdurch diese Figur gezeigt wird, verstanden: Man weiß jetztBescheid. Gleichzeitig bekommt man eine Übersicht überden Ablauf und kann die Qualitäten der Veränderungen, diesich bei der Bewegung vollziehen, genauer fassen. So kannder Hauptunterricht zu Ende gehen.Der erste Unterrichtsschritt am nächsten Tag vollzieht sichin jeder Klasse vollkommen anders. Die Aktivität geht ganzvom Schüler aus, der nun das Gesetzmäßige dieser Figurentdeckt, das einerseits in den Zahlenfolgen der Tabelle liegtund andererseits in der jeweiligen Flächengleichheit derRechtecke.Mit dem geübtem Blick des Mathematikers sieht man denBeweis sofort:

Das Rechteck wird durch die Diagonale in zwei flächen-gleiche rechtwinklige Dreiecke zerlegt. In jedem dieserbeiden Dreiecke befinden sich je ein kleines dunkelgrauesund ein etwas größeres hellgraues Dreieck. Schneidet manvon den beiden großen Dreiecken diese beiden kleinerenDreiecke ab, bleiben jeweils die beiden gelben Rechteckeübrig. Sie müssen den gleichen Flächeninhalt haben, weil ›

Lotta Hackbeil

Kunst ist die Reproduktion von Intuition und Mut zur Aufzeichnung inneren Chaos.

Hannah Bothur

Kunst ist der Kontakt mit der WeltLudwig Stabenow

Kunst ist wie ein Tramper. Immer auf Reisen.

Amos Detscher

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Page 24: Erziehungskunst Spezial kunst leben

Gleiches von flächengleichen Ausgangsdreiecken abgeschnitten wurde. Wenn manvon Gleichem Gleiches abschneidet, muss der Inhalt der Restfläche ebenfalls gleichsein.Man kann bemerken, dass alle Elemente, die zum Beweis herangezogen wurden,schon in der Vorstellungsübung hervorgebracht werden mussten. Es ist eine Fragedes Blicks, dass dieser Beweis »gesehen« werden kann. Die Aufgabe des Lehrers be-steht also darin, durch eine offene Frage den Blick auf alle diese Elemente zu lenken.Eine solche Frage wäre zum Beispiel: »Wie viele Dreiecke seht ihr in dieser Figur?«Die richtige Antwort »sechs« öffnet das Bewusstsein für die gleichzeitige Anwesen-heit aller für den Gedankengang notwendigen geometrischen Elemente. Das Den-ken wird wahrnehmungsförmig im Moment des Evidenzerlebens. Nicht der Schülerschafft die Evidenz, sondern sie stellt sich wie von außen ein; die zunächst in keinemZusammenhang stehenden Puzzlesteine fallen wie von selbst an ihren Platz. DerBlick der Phantasie hat sich so verdichtet, dass er erkenntnisförmig geworden ist.

Ein Weg, sich in die Welt zu stellenÜberblickt man nochmals den hier dargestellten Unterrichtsgang, dann taucht derSchüler am Anfang ganz in die Willenssphäre dieser Vorstellungsübung ein, umdann das, was sich dort ereignet hat, bewusstseinsmäßig zu durchdringen. Ent-scheidend ist dabei, dass nichts gedanklich dazugefügt wird, was nicht zuvor schon(potenziell) in der Erscheinung vorhanden war. In den mathematischen Phänome-nen, die immer als Vorgang und Ergebnis zugleich betrachtet werden müssen, liegtschon ihr begrifflicher Zusammenhang und muss nur entdeckt werden. Insofernkann man sagen, dass das Willensleben des Schülers selbst im Bewusstsein aufge-hellt wird. Die Willensvorgänge werden hell und durchsichtig. Die Gedanken werdenaus dem Willensleben geboren, das sich an der Welt entzündet. Insofern ist der Ma-thematikunterricht auch im eminentesten Sinne Willenspädagogik! Im Ergreifender Wirklichkeit durch den Schüler realisiert sich der erzieherische Prozess, der inWahrheit Selbsterziehung ist: Der Schüler gestaltet sein Willensleben von innen her-aus. Er kommt zu einem eigenen Standpunkt in und nicht neben der Welt.

Glauben wir noch an den »normalen« Unterricht?An dieses Unterrichtsbeispiel schließen sich grundlegende Fragen an: Glauben wirals Waldorfpädagogen noch an die unbedingte pädagogische Kraft eines fachlichgerahmten Unterrichts in der Mittelstufe? Oder haben wir resigniert und vertrauen

erziehungskunst spezial Juli/August | 2014

Zum Autor: Stephan Sigler ist

Dozent am Lehrerseminar Kassel

und Lehrer in der Mittel- und

Oberstufe an der Freien Waldorf-

schule Kassel für Mathematik

und Geographie.

24 KUNST

Die Konstruktion zum grünen Rechteck flächengleicher Rechtecke zeigt

eine weitere Gesetzmäßigkeit: Die Eckpunkte liegen auf einer Hyperbel.

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Page 25: Erziehungskunst Spezial kunst leben

Hier stehen als Marginalie interessante Infos oder ein Zitat

oder ein Gedicht oder oder

25KUNST

2014 | Juli/August erziehungskunst spezial

eigentlich nur noch auf Events, Alpenwanderprojekte,Radtouren, andere Entschulungsmaßnahmen, Projektewie Jahresarbeiten und Klassenspiele, die den »norma-len« Unterricht erträglich machen, wenn nicht ablösensollen, die ja eigentlich neben der Eurythmie die Waldorf-schule zur Waldorfschule machen?Die Forderung Steiners nach der Phantasie in der Urteils-bildung, nach einem mathematisch-naturwissenschaftli-chen Unterricht, in den Grazie hineingebracht werdenmüsse, der nicht »riesenernst« und »sauer« sein dürfe, derPointen zeigen müsse, so dass die Kugelkalotte lächelt, wennihr Flächeninhalt berechnet wird, rechtfertigt ein solchesVertrauen. Im künstlerischen Unterricht soll das Sinnliche,das Material durch die Phantasie und Gedankenkraft desSchülers in Form der Idee erscheinen. Welch ungeheureHerausforderungen an den Klassenlehrer, der in der Regelja kaum Zeit hat, sich derart tief in die einzelnen Fächer ein-zuarbeiten. Dass man um eine solch tiefe fachliche Einar-beitung nicht herum kommt, ist deutlich, weil erst sie dasMaterial erschließt, das dann in der Form der Idee im Klas-senzimmer erscheinen soll. Ohne den Stoff, ohne den ent-sprechenden Weltbereich als Material, bleibt der Unterrichtbestenfalls platonisch, indem große Bilder an die Schüler»herangeredet« werden, schlechtestenfalls nur intellektuell-belehrend – eben nur das oberflächliche Schäumen aufeinem unendlich tiefen Ozean.

Was aus alldem folgt: Wir sollten in der Diskussion, wielange ein Klassenlehrer eine Klasse führen sollte, nichtimmer pauschal die »sogenannten Experten« gegen dieje-nigen ausspielen, die immer alles neu »erfinden« müssen,sondern endlich wieder den Unterricht und damit insbe-sondere auch das Fachliche im oben geschilderten Sinne inden Blick nehmen und damit auf die notwendig zu schaf-fenden Bedingungen blicken, die es dem Lehrer einer (Mit-telstufen-)Klasse ermöglicht, sich mit der Erscheinungsseiteund der Geistseite der entsprechenden Unterrichtsinhalteso zu verbinden, dass die Kugelkalotte eben doch ab und zueinmal lächelt und der Unterrichtsprozess ein künstlerischerwerden kann. ‹› Ludwig Stabenow

Luise-Charlotte Modrakowski

Kunst ist nicht immer ein Griff ins Klo. Gute Kunst ist das, was wir

nicht erwarten würden.

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Page 26: Erziehungskunst Spezial kunst leben

Siebeneinhalb Stunden dauert die Zugfahrt nach Dresden, der zweiten Stadt unseres Kulturprojektes. Das »Streetart Festival Dresden« hat gerade begonnen.Kaum angekommen, sind wir, 27 Schülerinnen und Schüler der 11. Klassen sowieeine Kunstlehrerin und ein Deutschlehrer der Freien Waldorfschule am Kräherwaldin Stuttgart, schon unterwegs zum Festspielhaus Hellerau, um dort im großen Saal»Distortion« zu erleben, eine Performance der Choreographin Costanza Magras mitder Hiphop Academy. Breakdancer, Hiphopper, Rapper, Sleepwalker und ein MC imDuo mit einer Geigerin gestalten die Begegnung ihrer individuellen Lebenswelten inakustisch-tänzerischen Tableaus. Im Anschluss haben wir die Chance, mit den Darstellern in einem von der Künst-lerin Nancy Spero bemalten Raum exklusiv zusammenzutreffen, sie zu befragen.Streetart ist eine Lebenshaltung und erfordert von jedem, seinen Stil zu findenund sich vom Stil der anderen herausfordern zu lassen: »Alles in meinem Lebenhat Bedeutung, wird aufgenommen und flattert dann auch wieder hinaus ...«Rasch sind wir die Befragten. – Zwei ehemalige Waldorfschüler gehören auchzur Truppe und wollen genau wissen, wie die Elftklässler nach ihrem eigenenAusdruck suchen, was für sie zählt und wo sie sich verausgaben.Am nächsten Tag stoßen wir während unserer Stadtführung auf weitere Akteure desFestivals, international agierende Künstler aus Belgien, die selbst gebaute Betten, Ti-sche und Stühle mit Hilfe von Passanten innerhalb einer Woche von der Uni nachHellerau tragen und diese Möbel während dieser Zeit auch bewohnen. Eines Mor-gens entdecken wir die drei Künstler dann auf der Straße nahe unseres Hostels,schlafend in ihren Betten, umringt von Kindern auf dem Weg zum Kindergarten.Nachbarn bringen bereits Frühstück, eine wahre Stadtwohnung! Gut, dass das Wet-ter mitspielt.Zwei Tage später sitzen wir in der ersten Reihe der Semperoper, um das Ballett »La Bayadere« zu erleben, das ja alles zeigt, was ein klassisches Ballett zu bietenhat an Tanzformen und Bildern eines opulenten orientalischen Märchens. HöchsteBewunderung gilt vor allem den männlichen Solisten und deren Technik: »Da können die Hiphopper aber einpacken!«, bemerkt ein Schüler, der noch vor

Die Begegnung mit Kunst stößt Türen aufDas Kulturprojekt Stuttgart-Dresden

von Gabriele Hiller

26 KUNST

»Wir würden es wieder tun.Wir werden es wieder tun.

Hier. Auf der Stelle.Grausam oder reizend.

Gütig oder wirr.Sofort.

Demnächst.Wir werden es wieder tun.«

Text auf einer Fahne des

Theaters »Kleines Haus«

in Dresden Neustadt

erziehungskunst spezial Juli/August | 2014

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Page 27: Erziehungskunst Spezial kunst leben

Hier stehen als Marginalie interessante Infos

Hier stehen als Marginalie interessante Infos oder ein Zitat

oder ein Gedicht oder oder

27KUNST

2014 | Juli/August erziehungskunst spezial

kurzem begeistert war vom Avantgarde-Theater »Die Re-volver der Überschüsse« von Rene Pollesch.

In der Heimat beginnt esDoch begonnen hat alles in Stuttgart. Jedes Jahr wählen dieSchüler für ein Schuljahr ein Kulturprojekt oder ein biolo-gisch-naturwissenschaftliches Projekt aus, das sie mit denSchülern der Parallelklasse in drei Phasen des Jahres ge-meinsam durchführen. Ziel des Kulturprojektes ist es, dieJugendlichen in die Kultur ihrer Heimatstadt einzuführenund Künstlern, Kulturschaffenden oder kulturverwaltendenMenschen zu begegnen und mit ihnen zusammenzuarbei-ten. Dazu ist erforderlich, den schulischen Rahmen zu öff-nen und große Teile des Projektes außerhalb der Schule, inTheatern, in der Oper und im Ballett, in Museen, an derKunstakademie, mit Stadtplanungsexperten oder bei Künst-lern durchzuführen. Welchen Schwerpunkt im Kulturlebenwir jeweils auswählen, entscheiden die beteiligten Schülerund unsere Kooperationspartner in den Institutionen.

Unerwartete FähigkeitenDie Schüler können durch das Projekt unerwartete Interes-sen entdecken. Sie bekommen Lust am Theaterbesuch mitanderen Jugendlichen, bieten interaktive Museumsführun-gen für Kinder und Gleichaltrige an (face-to-face mit demKunstmuseum Stuttgart) – erproben Fähigkeiten, von derenExistenz sie vorher nichts wussten. Vor dem Projekt kennen die Jugendlichen sich eher alsSchüler einer Klassenstufe mit gelegentlichen Berührungs-punkten. In der Stuttgarter Anfangsphase verändert sich dasauch nur allmählich, denn hier ist das Projekt in den oh-nehin engen zeitlichen Lebensrahmen der Jugendlichen ein-gefügt, der es nicht zulässt, kulturell »in die Vollen zugehen«. Erst die gemeinsam verbrachten acht Tage inDresden lassen eine echte Gruppe aus den vielen Indivi-duen werden. Nun beginnen die Schüler, sich gegenseitigzu beflügeln. Sie werden umso aktiver, je anspruchsvollerauch in zeitlicher Beanspruchung die Exkursion ist.Bedingungen für ein gutes Gelingen eines solchen Projektssind ein großes Interesse, eine ausgewogene Mischung der ›

Magdalena Zöllner

Amos Detscher

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Klassen (nicht zuletzt auch der Geschlechter) und ein vielseitiges, herausfor-derndes Angebot an Workshops, Aufführungen und Ausstellungen und schließ-lich die Bereitschaft von Künstlern und Kulturschaffenden, auch aus derElternschaft der Schule, ihr Arbeitsfeld und ihre Erfahrungen zur Verfügung zustellen.Mir ist sehr wichtig, dass das Projekt nicht verspießert in dem Sinne: Es gibt einebewährte Form, in die sich alle einordnen und dann läuft es schon! Statt Vorher-sehbarkeit und Routine (apollinisch) soll Dynamik eintreten (dionysisch). Mitdiesen beiden Polaritäten nach Nietzsche hatten wir uns in der ersten Phase desProjektes eingehend auseinandergesetzt. Darüber hinaus beschäftigten wir unsmit der Entstehung und Geschichte des Theaters, erübten Interviewtechnikenund einen kreativen Umgang mit Kunstwerken.Zum interaktiven Umgang mit Kunst bildeten in der ersten Stuttgarter Phase dieSchüler Kleingruppen, die sich in einer zweiten, achtwöchigen Phase und zumTeil außerhalb des Unterrichtes mit einer Kulturinstitution vor Ort auseinander-setzten und Interviews mit Verantwortlichen dieser Institution führten. Wir be-suchten Theaterproben öffentlicher Theater bis hin zur Aufführung oder wir lerntendie Arbeit von Fachleuten in einem schauspielerischen und einem dramaturgischenWorkshop zu einer Inszenierung kennen. Nach den Aufführungen fand oft einGespräch im Beisein eines Schauspielers oder des Regisseurs statt und die Schülerlernten, ihre Erfahrungen zu bearbeiten, zum Beispiel indem sie eine Kritik oderReportage verfassten. Ein leitender Mitarbeiter des Stadtplanungsamtes gab uns Einblick in seine Ge-staltungs- und Entscheidungsmöglichkeiten, aber auch in die Wege von Bürger-beteiligung. Die Schüler spielten ernsthaft eine aktuelle Wettbewerbssituationdurch und mussten mit guten Argumenten einen Siegerentwurf auswählen –das Spiel kam den tatsächlichen Gegebenheiten nahe.

Exkursion nach DresdenIn Dresden sind wir von Beginn an auf besonders viele kooperationswillige Kultur-Institutionen gestoßen – von der Semperoper über das Hygiene-Museum, das sozio-kulturelle Zentrum »riesa-efau«, die Kunstakademie, mehrere Theater und dasDenkmalamt bis zu einer jungen Künstlerin, die mit einer Gruppe von Schülerneinen Workshop zu ihrer Arbeitsweise und -technik durchführt. Eine Theater-pädagogin bereitet eines der Theaterstücke, das wir sehen, durch einen Intensiv-Workshop vor. Auch hier führen die Schüler Interviews in jeweils einer Institution,die sich, wenn irgend möglich, in Beziehung setzen lässt zu der in Stuttgart. Beiallem Einzigartigen sollen sich Vergleichspunkte finden lassen, um die Jugendlichensicherer und urteilsfähiger zu machen.Unsere fünf Museumsbesuche in Dresden sind so angelegt, dass durch die Art der

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Für Lehrer der Klassen 1 bis 8 istdieses Buch ein vielseitiges Arbeits-mittel. Es zeigt umfassend, wieman Kinder in den einzelnen Schul-jahren im Malen und Zeichnen anleiten kann und welche künst-lerischen Fähigkeiten sie dabei entwickeln können.

Thomas Wildgruber schlägt einenUnterrichtsaufbau vor, der vomfreien und angeleiteten Gestalten biszur exakten perspektivischen Dar-stellung führt. Dabei wird jede Jahr-gangsstufe mit Betrachtungen zurEntwicklungssituation und mit Kompetenzprofilen ergänzt. 280 altersbezogene Aufgabenstellungengeben dem Pädagogen praktischeHilfen und kunstdidaktische Ge-sichtspunkte. Über 800 Schülerbil-der verdeutlichen die bildnerischenMöglichkeiten. Die künstlerischenAspekte hat der Autor aus den Theorien der Klassischen Moderneentwickelt.

Freies Geistesleben

Thomas WildgruberMalen und Zeichnen 1. bis 8. SchuljahrEin Handbuch. 375 Seiten, durchgehend farbig, gebunden | € 29,90 (D) ISBN 978-3-7725-2198-0www.geistesleben.com

Thomas Wildgruber

Malen und Zeichnen1. bis 8. Schuljahr Ein Handbuch

Freies Geistesleben

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Vermittlung jeweils ein anderer Zugang zu den Exponatenmöglich wird, um das Potenzial der Jugendlichen und derFachleute vor Ort optimal zu nutzen, zum Beispiel die AltenMeister im Zwinger mit Führung oder das Hygienemu-seum in eigener Erkundung.

In neue Räume mit PolyluxEs ereignet sich im Polylux-Workshop, den eine DresdenerKünstlerin uns seit einigen Jahren anbietet: Die Künstlerinlässt an einem Overhead-Projektor (ostdeutsch: Polylux) Per-formances entstehen, indem sie auf der Lichtfläche des Ap-parates auf Folien zeichnet, ohne auf die entstehendeZeichnung zu blicken. Sie schaut stattdessen in den Raumdavor, den die entstehenden Linien und Flächen durch dieProjektion erobern. Materialien, wie farbige Glasplatten,Farbfolien, Schablonen, Holzstäbe, Papiergitter und -strei-fen liegen bereit, um die Projektion weiter zu verändern. Während sich die Schüler in den Jahren davor an dieseskünstlerische Medium eher langsam und tastend an-genähert hatten, nahezu meditativ, geraten sie jetzt raschin eine sich gegenseitig impulsierende und dynamischeAktion. So entstehen humorvolle, aber auch poetische Sequenzen, die von Wandkritzeleien bis Farbräumen reichen. Dazu erzählen sie passende Geschichten und treten teilweise selbst in die Szene als lebendige Figuren.Eine Ideenfülle ohnegleichen entsteht, die nicht von außenzu steuern ist, ohne das Gelingen zu gefährden. Die schließ-lich als Zuschauer hinzugekommenen Schüler sind mitihren Sehgewohnheiten überfordert und ratlos, wie dasästhetisch zu fassen sei, ob das überhaupt eine Qualitäthabe. – Es ist ein neues Tor aufgestoßen.Diese Erfahrung motiviert mich, noch wacher darauf zu ach-ten, wo Neues entsteht, damit diesem Raum gegeben wer-den kann, selbst auf die Gefahr hin, dass es zunächst wieein Scheitern erscheint.

Das Kulturfrühstück gehört dazuWieder zu Hause angelangt, bildet ein Kulturfrühstückauf einer Terrasse mit Gesprächen über die Erfahrungenund Ergebnisse des Projektes den internen Abschluss. ›

Marianne Ehnert

Marie Schulze

Kunst ist Kunst und alles andere ist alles andere

Lotta Hackbeil

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30 KUNST

Performative PlatzbegehungSpiel mit »polylux«

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› Denn bereits in Dresden war der tägliche gemeinsameBesuch eines für die Stadt typischen Mittagstisches – vonder Postkantine über die Planwirtschaft, das Essen im Mehr-generationenhaus des riesa-efau bis zum Spanier unterLindenbäumen – ein wichtiges Element.Alle Schüler verfassen Texte über ihre wichtigsten Be-gegnungen und Erkenntnisse, die in einem Projektbuchgesammelt werden, redaktionell betreut von einem Schüler-team. Schließlich präsentieren die Teilnehmer an einemAbend ihren Eltern, Freunden, Mitschülern und Lehrern,wie sie gearbeitet haben und was sie besonders wichtigfanden.Woran wird der Projektcharakter für alle Beteiligten evident?Warum ist es mehr als Unterricht in etwas anderem For-mat? – Weil alle Unternehmungen und Einzelleistungenschließlich eine Gesamtheit bilden, die in ihrer Wirkungweit mehr ist als die Summe aller Aspekte. Weil aus einerGruppe von Individuen eine sinnesintensive vitale Ge-meinschaft wird. Dass das Ganze sich im Rahmen vonSchule abspielt, ist dann fast nebensächlich und ein Geschenk für mich als Lehrerin. Wenn es glückt, entstehtfast wie von selbst das Beuyssche »oszillierende Lern-prinzip«, »in dem das Lehr-Lernverhältnis ganz offen undständig umkehrbar sein muss«. ‹›

Zur Autorin: Gabriele Hiller, seit 1977 Lehrerin für Kunstbe-

trachtung an Waldorfschulen und in der Lehrerbildung, Kurse

mit Erwachsenen im Museum.

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Ein Kunstprojekt, in dem dasLehr-Lernverhältnis offen undständig umkehrbar ist.

Therese Zeller

Winona Damm

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Für die meisten Schüler der mittlerweile rund eintausend Waldorfschulen weltweitsteht mindestens einmal wöchentlich Eurythmie auf dem Stundenplan. Als »eingeistiges Bewegungsspiel«, bezeichnete Rudolf Steiner die Eurythmie bei einerAnsprache im Jahr 1924. Der Eurythmieunterricht solle eine Ergänzung zumTurnunterricht bieten und neben der rein körperlichen Bewegung auch die geistig-seelische Komponente einbeziehen. Auch heute noch trägt die Eurythmie diesenTeil zur Gesamtkomposition des Lehrplans bei und ist wichtiger denn je. Die Folgeneinseitig kognitiver oder stark am Wettbewerb ausgerichteter Lern- und Arbeits-formen sind ja inzwischen bekannt.Wenn die Eurythmie einen so wichtigen Beitrag zur Erziehung leistet, warumgibt es sie denn nicht außerhalb der Waldorfschule, fragt ein Zehntklässlerwährend eines Gesprächs im Unterricht. – Tatsächlich ist es ja so, dass Waldorf-schüler nach dem Verlassen des Schulgeländes heute kaum der Eurythmie alsKunstform begegnen. Manche kennen und schätzen ihre therapeutische

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In der Waldorfpädagogik hat die Eurythmie als Unter-richtsfach längst Schule ge-

macht. Bei dem Projekt»What moves you« könnensich junge Menschen auch

außerhalb der Schule mit ihrbeschäftigen.

Eurythmie – eine Kunst in Bewegungvon André Macco

32 KUNST

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»Wir würden es wieder tun.Wir werden es wieder tun.Hier. Auf der Stelle.Grausam oder reizend.Gütig oder wirr.Sofort. Demnächst.Wir werden es wieder tun.«

(Text auf einer Fahne desTheaters »Kleines Haus« inDresden Neustadt)

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Marta Tille

Max Ziem

Anwendung in Form der Heileurythmie, aber auf derBühne? Oder gar als Hobby? Dafür treffen sie viel häufigerauf Freunde anderer Schulformen, die nur den leidigen Slo-gan vom »Namen tanzenden Waldorfschüler« kennen undsich fragen, was ihre Altersgenossen an der Schule da über-haupt lernen.So mancher Waldorfschüler wird sich diese Frage selbst stel-len, wenn er im entsprechenden Alter wach wird für das,was ihn umgibt und was ihn bewegt – und wohin ihn seinLeben führen will. Diese Fragen können zu einem Großteilin der Schule angesprochen, aber nicht ausreichend vertieftwerden. Dafür bräuchte es eine individuellere, tiefer ge-hende Auseinandersetzung.

Eurythmie über die Schule hinausMit dem Wunsch, sich einmal intensiv einem eurythmi-schen Projekt zu widmen und mehr über das Potenzialdieser Bewegungskunst zu erfahren, kamen im Jahr 2012Jugendliche aus vierzehn Nationen nach Berlin, um amersten internationalen Jugend-Eurythmie-Projekt »Whatmoves you« teilzunehmen. Es waren fast alle Waldorf-schüler. Die meisten von ihnen erzählten, sie machten ander Schule gerne Eurythmie, hätten aber keine Gelegenheit,sie frei von allen Anforderungen des Alltags zu erfahren undzu genießen. Es war klar: Hier gibt es eine »Bedarfslücke«.Über achtzig Teilnehmer im Alter von 17 bis 23 Jahren habenin den vier Wochen von »What moves you« Erstaunlichesgeleistet und sind allesamt über sich hinausgewachsen. AmEnde wurde vor tausend Zuschauern ein Programm darge-boten, das Beethovens fünfte Symphonie sowie das Werk»Fratres« des zeitgenössischen estnischen KomponistenArvo Pärt umfasste (»Erziehungskunst« 11/2012). Zehn Teil-nehmer nahmen anschließend ein Eurythmiestudium auf.»Die vielen Details, die mir zuvor überhaupt nicht bewusstwaren, aufnehmen und wahrnehmen zu können und nachjedem Eurythmieblock zufrieden in die Pause gehen zu dür-fen«, beschreibt eine Teilnehmerin als ihre besondere Er-fahrung. Eine andere schildert ihre »Freude, alle Emotionenin die Gesten hineinlegen zu können, entsprechend zurMusik. Mein Körper beginnt, die Musik zu verstehen und

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Eine Bedarfslücke: Eurythmie intensiv erleben außerhalb der Schule und bis zu bühnenreifen Großaufführungen innerhalb von vier

Wochen bringen – das spricht Jugendliche aus aller Welt an.

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darauf sozusagen zu antworten«. Alle nahmen viel Freudeund Erlebnisse mit, die noch heute – zwei Jahre später –nachklingen.Inzwischen steht das zweite »Whatmovesyou«-Projekt vorder Tür. Wieder kommen achtzig Jugendliche nach Berlin,21 Länder sind vertreten. Das Programm steht unter demMotto »Neue Welten« und befasst sich mit Anton DvoráksSinfonie »Aus der Neuen Welt«. Der Verein, der das Projektträgt, sowie die beteiligten Mitarbeiter und Künstler, sehenden Bedarf, es längerfristig zu etablieren und auszubauen –und damit der Eurythmie neue Welten zu eröffnen. Esscheint in dieser Form eine gelungene Mischung aus sub-stanzieller, qualitativer künstlerischer Arbeit und einem po-pulären, begeisternden Event zu sein – eine Gratwanderungim Kulturbetrieb. Der beim letzten Projekt entstandene Do-kumentarfilm von Christian Labhart brachte der Eurythmiemit über 12.500 Zuschauern im Kino eine kurzfristige öf-fentliche Aufmerksamkeit und führte auch zu manch neuerBekanntschaft mit ihr. Nach einer der Filmvorführungen er-kundigte sich zum Beispiel ein sechzehnjähriger Gymnasi-ast bei mir nach Eurythmiekursen. Eurythmie über dieWaldorfschule hinaus, in Volkshochschulen oder Jugend-zentren und nicht allein für Waldorfschüler – das wäre einbedeutender Schritt in der Entwicklung dieser Kunst! ‹›

Zum Autor: André Macco war als Eurythmist auf der Bühne

und in der Schule tätig. Er ist geschäftsführender Leiter des

Eurythmie-Projekts »What moves you«.

Literatur:

Rudolf Steiner: Vortrag vom 14. April 1924, Dornach 1928,

Eurythmie – Die Offenbarung der sprechenden Seele«

Link zum Film: www.whatmovesyou-film.com

Hinweis: Das Projekt »What moves you – Neue Welten« findet

vom 13. Juli bis 11. August 2014 statt. www.whatmovesyou.de

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KUNST 35

Robert Klemm

Sara Eckhardt

Das Schöne an der Kunst ist, dass man Erinnerungen und Erlebnisseganz individuell ausdrücken kann,

sodass sie für einen selber kurzzeitig wieder aufblitzen und man sie

neu erleben kann. Dies ist sehr wertvoll für mich, so werden meine Erinnerungen sichtbar, anders als auf Fotos, denn sie drücken sie so aus, wie ich sie damals, vor Jahren,

erlebte, meine ganz persönlichen, eigenen Eindrücke, welche ich

so niemals vergessen werde.Laura Meyer

^

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In die Zukunft voranschreitenEine 12. Klasse schreibt Anton Tschechows

»Kirschgarten« um

von Heidrun Filous

Der Prozess ist Kunst. Er ist wandelbar, spontan und lässt eine Vielzahl von Möglichkeiten

offen, stellt jedoch auch Punkte klar in den Raum. Es geht nicht um das abgeschlossene Werk,

denn sobald ein Prozess abgeschlossen ist, gehört er der Vergangenheit an. Das fertige Werk

kann als Wegweiser für die Zukunft dienen, sie jedoch nicht definieren. Kunst bietet eine uner-

schöpfliche Vielfalt, welche grenzenlos ist. Bewegung ist wohl die zukünftige Form, sich

auszudrücken, da sie sich ständig wandelt. Stellt man Zukunft durch die Bewegung des

eigenen Körpers dar, muss man wegkommen von den ›alten‹ Bewegungsmustern, um eine

neue Form der Interaktion mit Raum, Zeit und anderen Personen zu erspüren.

Aktiv und passiv, sind zwei Begriffe, welche uns bei dem ›Weg in die Zukunft‹ stetig begleiten.

Öffne ich mich, verschließe ich mich, warte ich, gehe ich, gehen WIR.«Lukas, 12. Klasse, nach dem Theaterspiel »Der Kirschgarten«

36 KUNST

erziehungskunst spezial Juli/August | 2014

32 Schüler und drei Lehrer hatten sich in Dresden auf den Weg gemacht, für dasTheaterstück »Der Kirschgarten« von Anton Tschechow nach einer zeitgemäßenkünstlerischen Umsetzung zu suchen.Neben der klassischen Aufgabenverteilung ineinem Theaterprojekt wie Öffentlichkeitsarbeit, Sponsoring, Bühnenbild, Technik,Kostüm und Maske bestimmte die Suche nach der Rollenverkörperung und derInterpretationsart der tragischen Komödie einige Tage den Klassenalltag. 15 Rollen,32 Schüler und ein etwas langweilig wirkendes Stück – alles schien noch nicht zusammenzufinden. Zuhören, Verständigungsfragen, Zusammenhänge erfassen,Vorschläge machen, Meinungsbildung und Meinungsverschiedenheiten, Dinge

»

Theater spielen heißt Neuesschaffen aus der Vergangen-heit für die Gegenwart undZukunft. Die zwölfte Klasse in Dresden schrieb Anton

Tschechows »Kirschgarten«auf ihre Weise weiter

und berührte die Zuschauerdamit tief.

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festlegen und Unklarheiten zulassen, die Ahnung, dass mandie eigenen Masken fallen lassen und an ein noch unklaresgemeinsames Ziel glauben muss, – all das verband uns mitder Zeit immer mehr und ließ uns aktiv werden.

Auf der Grenze zwischen Altem und NeuemSchließlich fanden wir unsere Lesart des Stückes. Eine Si-tuation wie die im »Kirschgarten« von Tschechow kann ei-gentlich jeder erleben, zu jeder Zeit. Das Stück zeigt, wiesich Gesellschaftsformen und Wertvorstellungen verschie-ben, wenn sich Altvertrautes auflöst und Ahnungen einerneuen Welt auftun. Die Menschen mit ihren Sehnsüchten,ihrer Einsamkeit, ihren Wünschen und ihren Ängsten aufder Grenze zwischen Alt und Neu wollten wir darstellen.Vergangenes und die Facetten der seelischen Bewältigung,die durch den Verkauf des Kirschgartens nötig werden, über-nahmen wir größtenteils von Tschechow. Den Moment, indem die Protagonisten der Zukunft ahnungsvoll ins Augeschauen müssen, haben wir als dritten Teil, in Form einerPerformance neu geschaffen.Der Kreislauf von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunftlag als Prozess vor uns, löste aber auch viele Fragen in denJugendlichen und in uns Lehrern selbst aus. Zukunft – wiesieht sie aus? Manche anfängliche Antworten waren ernüch-ternd: »Interessiert mich nicht«, »Man kann doch eh nichtsändern«, Achselzucken. Drei Zeitzustände, drei Aus-drucksarten: Schauspiel, Musik, Performance und das sichlangsam konkretisierende Gesamtziel wurden in einer auf-merksamen Wechselbeziehung und einer immer mehr aufVertrauen und Kritikfähigkeit basierenden Probenarbeitschrittweise greifbar. Jede Gruppe hatte Grenzen zu über-schreiten, ob mit der Stimme und dem Körper, der musi-kalischen Gestaltungs- und Interpretationskraft der vierMusiker oder der Körperpräsenz der Darsteller in Zeit undRaum. Festgelegtes und Improvisiertes, unterschiedlicheZeitströme und deren Ausdrucksformen ließen verschie-dene Rhythmen und bewusst lang gesetzte Pausen, ja sogarStille im Stück entstehen. Dies verlangte viel Aufmerksam-keit, Präsenz und Offenheit von den Zwölftklässlern sowievom Publikum. Wachsein mit den Sinnen, kein Zurück-

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KUNST 37

Martin Schmieder

Mathilda Augart

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38 KUNST

Tschechows »Kirschgarten«, von Dresdner Waldorfschülern gespielt und in die Zukunft projiziert, verlangte grenzüberschreitenden

Einsatz – und ein aufmerksames Publikum.

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› lehnen auf dem Zuschauerstuhl, sondern innere Aktivitätwar gefordert. Unbekanntes wurde erzeugt.Auch der äußere Rahmen war ungewöhnlich. Die Besuchererlebten eine »Castingsituation«, in der an diesem AbendSchauspieler, Musiker und Performer das erste Mal dasStück nach der neuen Fassung der Regie aufführen sollten.Das Bühnenbild war angedeutet, die Kostüme rollenspezi-fisch, aber alltäglich. Nichts sollte ausgereift, geformt er-scheinen, sondern offenlassend und spontan und dabeiwieder in sich stimmig sein. Zum Abschluss zeigten sichdie drei Regisseure gegenüber den Akteuren und den Zu-schauern voll zufrieden mit der von ihnen erlebten Neufas-sung an diesem Theaterabend.

Wagnis ZukunftAus dem objektiven Aufzeigen der gesellschaftlichen Situa-tion durch die Menschen im »Kirschgarten« sowie über dieemotionalen Reaktionen und Erinnerungen, bewegte sichdas Stück hin zu einer authentischen und mutigen Verkör-perung des Wagnisses, in eine unbekannte Zukunft voran-zuschreiten, welches die Performer in ahnungsvollenFacetten anboten. Das Ganze wurde von der autonom ar-beitenden Musikgruppe mit sensibel selbstkomponiertenMusikstücken, die den »Kirschgarten« als eine immer-währende Kraft charakterisierten, vielfältig erlebbar gemachtund zu stark emotionalen Momenten erhoben. Im abge-dunkelten Raum erreichte folgender Text von Gerhardt Gun-dermann die Menschen:

»Die Zukunft ist ne abgeschossene Kugelauf der mein Name steht und die mich treffen mussund meine Sache ist, wie ich sie fangemit’n Kopf, mit’n Arsch, mit der Hand

oder mit der Wangetrifft sie mich wie ein Torpedo

oder trifft sie wie ein Kuss …« ‹›

Zur Autorin: Heidrun Filous ist an der Freien Waldorfschule

Dresden als Kunstlehrerin tätig. An dem Gemeinschaftsprojekt

haben außerdem mitgewirkt Ulrike Schmidt und Carsten Beyer,

Lehrer der Oberstufe in Deutsch und Geschichte.

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Kunst ist in meinen Augen etwas sehr Spezielles und trotzdem für Jedermann erreichbar

und erlebbar. Kunst definiert sich dadurch, dass sowohl die bildende, alsauch die körperliche und geistige Kunstvon Menschen erschaffen, erdacht und kreiert wird. Daraufhin eine zweite Person von dieser Kunst berührt wird, diese Kunst die Person

anspricht oder die Kunst ihre Idee und Aussage übermittelt.

Rebecca Rühle

Kunst ist. Was der Sinn von Kunst ist?Keine Ahnung. Mir hat es Spaß gemacht.

Raphael Kittel

Kunst ist wie eine Reise über den Ozean.

Johanna Enders

Kunst ist unbedingt spontan.Magdalena Zöllner

Kunst ist wie eine andere Sprache, manche sprechen sie, andere können

mit ihr nichts anfangen.Franziska Gille

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Schön viel Musik im Kindergartenvon Susanna Gneist

40 KUNST

Was geschieht, wenn wir singen? Wem gilt unsereStimme? Was spricht sie?

Meine Stimme teilt mit, werich bin, woher ich komme,was mich ausmacht, wohin

ich unterwegs bin, wonach siesich eigentlich sehnt.– DieMusikpädagogin Susanna

Gneist hat ein generationen-übergreifendes Musikprojekt

im Kindergarten initiiert.

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Der Waldorfkindergarten Göttingen hatte die Sehnsucht, sich mehr um die Stim-men und um die Stimmung im Haus zu kümmern, sich musikalische Impulseins Haus zu holen. Ich konnte mir gut vorstellen, meine Erfahrungen als Musi-kerin im Kindergarten einzubringen und ein Musikprojekt eigens für dessen Be-dürfnisse zu entwickeln. Die Idee zu einer Zusammenarbeit entstand.Es begann mit fünfzig Kindern, zehn Erzieherinnen und jungen Mitarbeiternsowie den Eltern und Großeltern. Zugewandte und Ehemalige kamen hinzu. Wirwollten nicht nur Musik machen, sondern im weitesten Sinne »musikalisch arbeiten«.Es fing ganz klein an. Ich setzte mich in der ersten Zeit mit in die Gruppen, tätigin allem Tagesgeschehen, in Beziehung tretend und mir ein Bild machend vonden Gruppenverhältnissen, der Beschaffenheit der Stimmung. Ich filterte intui-tiv den akustischen Raum. Wer spricht? Zu wem? Wie viel? Wie? Laut, leise,schnell, hart, befehlend, bittend, hoch, tief, liebevoll, zugewandt, eindringlich,scheltend, verstummend, klar, einfühlsam, belebend, in Versen, sprachgestal-tend, in der Gruppe, zu Einzelnen, nur zu Kindern, Kleine zu Kleinen, Kleine zuGroßen, Erwachsene unter sich, Eltern unter sich, Eltern und Erzieherinnen.

Bild: Esther, 6 Jahre

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Wird gesungen? Zur Freude? Oder zum Gehen? Oder bei-des? Wie hoch? Kommen die Kinder mit beim Lied? Oderist es doch zu tief angesetzt für Kinderstimmen? Was istmit allen anderen Geräuschen, Tönen, Klängen, dem La-chen, Weinen, Poltern, Krachen und Rascheln? Erkennenwir die Menschen am Klang ihres Gangs? Jede Gruppe,jeder Erwachsene und jedes Kind bekamen unter all die-sen Aspekten ganz viel Aufmerksamkeit. Ich war da unddurfte mal hier, mal dort ein Lied, ein Handgestenspiel,einen Reigen mitmachen oder gestalten.

Geschichten aus TönenEin reiches Bild wollte ich in mich aufnehmen, um nachund nach mit Einzelnen oder in Gruppen ins musikali-sche Tun überzugehen. Zum Anfangen eigneten sich ambesten die Vorschulkinder mit ihrer Wachheit und ihremZutrauen. Für eine kurze Sequenz verließen wir denGruppenraum und tauchten ein ins Geschichtenerzählen.Der Klang der Zimbeln eröffnete und beschloss die Geschichte, die auf der Kinderharfe und anderen Instru-menten gespielt wurde, reihum wie eine Fortsetzungsge-schichte. Kein Kind kam je auf die Idee, die Geschichtemit Worten zu erzählen, oder auch nur zu fragen, ob esspielen solle oder wie. Jedes Kind ging auf mein Angebotein und nahm an dieser fast feierlichen Handlung teil.Sie fabulierten aus reinen Tönen, mal gestrichen, mal ge-zupft, mal mit großen Sprüngen, mal akkurat jede Saitelückenlos klingen lassend, mal verkehrt herum, mal nureinen Ton spielend, mal selbstvergessen, mal wild … DieKinder waren wie offene Bücher. Sie taten einen tiefenAtemzug am Ende und waren selber so beglückt, dass sieimmer wieder folgen wollten – in die Musik, die eigent-lich ihre war.

Klangreisen mit KastanienIn der ganzen Gruppe übernahm ich den wöchentlichenMusikabschlusskreis. Es wurde ein Moment geschaffen,anders als der Reigen, aber doch ihm gleichend, der angeregte Klangreisen gemäß der Jahreszeit und der gegenwärtigen Stimmung der Gruppe hervorbrachte:

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KUNST 41

Yaro Romanycheva

Wanda Klemm

Kunst ist das, was jeder einzelne

zu dieser macht.Clara Pontius

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Reisen ins Innere oder hinaus in die Naturklänge. Interessant war der Bogen vomkleinsten Wiegestubenkind, das mit hüpfenden Kastanien auf einer umgekehrtenTrommel seine Freude hatte, bis zum besonnenen Vorschulkind, das sich mit Ton-höhenbestimmung befasste, um schließlich bei »Hänschen klein« zu wissen, wannes dran kommt, wenn es bei den Einton-Flötchen den Grundton erwischt hat.

Mindestens eine Quint höherDie Kernarbeit bildete jedoch das musikalische Üben mit den Erzieherinnen. Die Be-sonderheit lag im langen Zeitraum von über einem Jahr und der Möglichkeit deskontinuierlichen, individuellen, aber auch gemeinschaftlichen Übens in kleinen Se-quenzen. Wir haben nicht nur gesungen. Wir übten uns besonders im Hören von mu-sikalischen Phänomenen und von stimmlichen und die Stimmung veränderndenTonlagen. Auch stellten wir Betrachtungen zum Duktus des Singens und Sprechensan. Einzeln arbeitete ich mit jeder Erzieherin an der »Erfahrung des Musikalischen«und dessen Potenzial und Bedeutung für die tägliche Arbeit. Die Erzieherinnen sin-gen jetzt nicht nur mehr, sondern stimmen die Lieder mindestens eine Quint höheran, das heißt in der Höhe der Kinderharfe, die für die Arbeit mit den Kindern idealgestimmt ist und jedem ungeübten Erwachsenen als viel zu hoch erscheint. Die Musikbietet für alle Aufgaben einer Erzieherin ein Übungsfeld: Im Takt bleiben, Abläufe optimieren, etwas nachklingen lassen, Raum und Stille schaffen, einer Einzelstimmefolgen, Mehrstimmigkeit im Gruppenraum, symphonisches Miteinander, bewegteEinzelstimmen versus gehaltene Quint, geerdet im Grundton und angebunden an dasGeistige in der Quint – dazwischen das Freilassen, der Spiel-Raum.Die tiefgehende Arbeit durch die Musik an allen Stellen des Alltags im Kinder-garten und bis hinein in die Elternhäuser hat in der ganzen Einrichtung eingrößeres Bewusstsein geschaffen für lebendiges künstlerisches Tun und seinedirekte positive Auswirkung auf die Kinder, wenn deren Bezugspersonen sich imkünstlerischen Element leicht und sicher bewegen. ‹›

Zur Autorin: Susanna Gneist ist Lehrerin, Musikerin, Chorleiterin, Dichterin, Komponistin

und musikalisch-pädagogische Erwachsenenbildnerin in Göttingen/D und Biel/CH. Kontakt:

[email protected]

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42 KUNST

Sie fabulierten aus reinen Tönen, mal gestrichen, mal gezupft, mal mit großen Sprüngen, mal akkurat jede Saitelückenlos klingen lassend, mal verkehrt herum, mal nureinen Ton spielend, mal selbstvergessen, mal wild …

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Page 43: Erziehungskunst Spezial kunst leben

Raphael Kittel

Kunst ist …Schokolade für den KopfNicht immer schön

Toll, umwerfend, neu und überzeugendAlles, was man als Kunst betrachtet

Mal mehr und mal wenigerAuf Beweise nicht angewiesen

Liselotte Walter

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Page 44: Erziehungskunst Spezial kunst leben

Freies Geistesleben : Wissenschaft und Lebenskunst

FARBE BEGEGNENGUDRUN HOFRICHTER · ARNO REICH-SIGGEMANN

FREIES GEISTESLEBEN

Gudrun Hofrichter | Arno Reich-Siggemann: Farbe begegnen. Vom Erleben zur Gestaltung. | 304 Seiten, mit zahlr. Abbildungen, durch-gehend farbig, gebunden | € 39,– (D) | ISBN 978-3-7725-2649-7 | www.geistesleben.com

Wir sind von Farben umgeben. – Anhand von exemplari-

schen Bildern der Kunstgeschichte entwickeln die Autoren

ein breit angelegtes Spektrum von Betrachtungsweisen des

Phänomens Farbe. Mit zahlreichen Vorschlägen zu eigenen

Projekten und Übungen regen sie zudem dazu an, das

Farberleben und den bewussten Umgang mit Farbe

zu intensivieren und das Interesse am eigenen Forschen zu

fördern.

Diese Schule des Sehens ist für alle, die sich für Farben interes-

sieren. Die erfahrenen Autoren, selbst als freischaffende Künstler

und Farbgestalter tätig, geben dem Buch in diesem Sinne eine

ausgeprägte visuelle Ausrichtung: es «erklärt» Farben nicht nur,

sondern führt das sinnliche Erleben von Farbe anschaulich vor.

Von Farbe umgeben – vom Erleben zur Gestaltung

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